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Langzeitarbeitslosigkeit hinterlässt Narben im Erwerbsverlauf

Ausländer, Niedrigqualifizierte und ältere Erwerbstätige haben ein erhöhtes Risiko, langzeiterwerbslos zu werden. Die Betroffenen müssen dabei mit bedeutenden Einkommenseinbussen rechnen.
Gute Sprachkenntnisse erleichtern die Jobsuche. Deutschkurs in Chur. (Bild: Keystone)

Über die letzten Jahre hat sich der Unterschied zwischen den Arbeitslosenzahlen des Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco) und den Erwerbslosenzahlen gemäss Definition der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) vergrössert[1]: Während der Bestand der bei den RAV eingeschriebenen Arbeitslosen zwischen 2010 und 2018 um 34’000 auf 118’000 zurückging, stieg die Zahl der Erwerbslosen gemäss Definition der ILO um 19’000 auf 231’000.

Die beschriebene gegenläufige Entwicklung geht vorwiegend auf eine wachsende Zahl von Langzeiterwerbslosen zurück, die sich nicht oder nicht mehr bei einem Regionalen Arbeitsvermittlungszentrum (RAV) zur Stellensuche melden. Im Jahr 2018 zählten gemäss Definition der ILO rund 80’000 Personen zwischen 25 und 64 Jahren zu dieser Gruppe. Die entsprechende Zahl der bei einem RAV registrierten Langzeitarbeitslosen zwischen 25 und 64 Jahren – Personen, die seit über einem Jahr registrierte Arbeitslose sind – beläuft sich hingegen seit Jahren auf ungefähr 20’000 Personen und hat sich in jüngster Zeit sogar etwas verringert (siehe Abbildung 1).

Dass die beiden Statistiken unterschiedliche Werte aufweisen, überrascht grundsätzlich nicht. Die Erwerbslosenzahl wird einmal pro Quartal durch eine telefonische Umfrage bei einer Stichprobe der ständigen Wohnbevölkerung ermittelt. Sie umfasst damit auch arbeitslose Personen, die sich nicht beim RAV anmelden, weil sie auf eine Beratung verzichten, keinen Anspruch auf Taggelder der Arbeitslosenversicherung (ALV) haben oder auch schlicht nicht wissen, dass sie einen solchen Anspruch hätten. Nicht unmittelbar klar ist hingegen, warum die Zahlen so weit auseinanderliegen und warum sie in den letzten Jahren weiter divergierten.

Im Auftrag des Bundes haben wir die Entwicklung der Erwerbslosen- und Arbeitslosenzahlen zwischen 2010 und 2018 analysiert.[2] Die Datenbasis dieses Teils der Untersuchung bildet die Syntheseerhebung soziale Sicherheit und Arbeitsmarkt (Sesam), wobei wir uns auf die Erwerbsbevölkerung zwischen 25 und 64 Jahren fokussierten.

Abb. 1   Langzeiterwerbslose und Langzeitarbeitslose (25- bis 64-Jährige, 2010–2018)




Quelle: BFS, Sesam; Berechnungen Liechti und Siegenthaler (2020) / Die Volkswirtschaft

Nur 1 von 3 Langzeiterwerbslosen beim RAV


Im untersuchten Zeitraum stieg die durchschnittliche Zahl der nicht registrierten Langzeiterwerbslosen um fast 20’000 Personen. Im Jahr 2018 waren zwei von drei Langzeiterwerbslosen nicht bei einem RAV registriert, wobei rund die Hälfte der nicht registrierten Langzeiterwerbslosen auch in den vorangehenden fünf Jahren zu keinem Zeitpunkt beim RAV angemeldet gewesen war. Überdurchschnittlich starke Zuwächse gab es bei den über 45-Jährigen: Im Jahr 2018 waren 53 Prozent der nicht registrierten Langzeiterwerbslosen 45 Jahre und älter. Zugelegt hat auch die Zahl der Hochqualifizierten: Knapp ein Viertel der nicht registrierten Langzeiterwerbslosen verfügte über eine Ausbildung auf Tertiärstufe.

Demgegenüber ging die Zahl der beim RAV gemeldeten Langzeiterwerbslosen im Alter von 25 bis 64 Jahren zwischen 2010 und 2018 um rund 5’000 Personen zurück. Der Rückgang fand aber nur bei den unter 45-Jährigen statt – die Zahl der über 45-Jährigen blieb weitgehend konstant. Ein Grund für die unterschiedliche Entwicklung dürfte unter anderem die Revision des Arbeitslosenversicherungsgesetzes (Avig) im Jahr 2011 sein, welche bei den Stellensuchenden unter 55 Jahren die maximale Bezugsdauer der Arbeitslosenentschädigung reduzierte. So bleiben ältere Stellensuchende auch aufgrund der längeren maximalen Bezugsdauer im Durchschnitt länger beim RAV gemeldet als jüngere.

Oft kein Taggeldanspruch


Das grösste Risiko für Erwerbspersonen, langzeitarbeitslos zu werden, besteht bei Personen, die bereits mehrere frühere Perioden von Arbeitslosigkeit aufweisen, bei Bezügern einer IV-Rente, bei Ausländerinnen und Ausländern, bei Personen ohne nachobligatorische Schulbildung (im Vergleich zu Personen mit einer Berufsausbildung) sowie bei älteren Personen ab 55 Jahren (im Vergleich zu Personen zwischen 35 und 44 Jahren). Stärker gefährdet sind ferner auch Frauen, 45- bis 54-Jährige (im Vergleich zu Personen zwischen 35 und 44 Jahren), Personen mit Zivilstand «getrennt» (im Vergleich zu «ledig») sowie solche mit Kindern unter 15 Jahren. In regionaler Hinsicht ist das Risiko für Langzeiterwerbslosigkeit im Kanton Tessin sowie in der Genferseeregion gegenüber der Nordwestschweiz erhöht.

Weshalb melden sich viele Langzeiterwerbslose nicht beim RAV? Die Personen, die sich nicht registrieren, sind überdurchschnittlich häufig Frauen, Ausländerinnen und Ausländer, weisen häufig keine frühere Erwerbstätigkeit auf, sind überdurchschnittlich oft IV-Rentner, sind berufliche Wiedereinsteiger oder sonst überdurchschnittlich lange ohne Erwerbstätigkeit. Oft handelt es sich somit um Langzeiterwerbslose, die vermutlich keinen Anspruch auf Arbeitslosentaggeld haben. Entsprechend reduziert auch eine Aussteuerung die Wahrscheinlichkeit, dass sich jemand beim RAV meldet. So sind im Jahr 2018 von den nicht registrierten Langzeiterwerbslosen 28 Prozent in den fünf vorangehenden Jahren ausgesteuert worden.

Bruch im Erwerbsverlauf


In der Studie untersuchten wir zudem, wie sich Langzeitarbeitslosigkeit auf den mittel- bis langfristigen Erwerbsverlauf der Betroffenen auswirkt. Dazu analysierten wir Einkommensregisterdaten der Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV) von 270’500 Langzeitarbeitslosen, die zwischen 2004 und 2014 an mindestens zwölf aufeinanderfolgenden Monaten ALV-Taggelder bezogen.

Wie sich zeigt, führt Langzeitarbeitslosigkeit zu einem Rückgang der Erwerbsaktivität der betroffenen Personen. Zwischen dem dritten Jahr vor und dem vierten Jahr nach einer Episode von Langzeitarbeitslosigkeit sinkt die Erwerbstätigenquote bei 30- bis 39-Jährigen um 9 Prozentpunkte, bei den 50- bis 55-Jährigen um 22 Prozentpunkte und bei den 55- bis 60-Jährigen sogar um 38 Prozentpunkte. Im Vergleich zur Zeit vor der Langzeitarbeitslosigkeit reduziert sich auch das durchschnittliche Arbeitseinkommen derjenigen, die wieder erwerbstätig werden – sei es aufgrund eines tieferen Lohnsatzes oder aufgrund eines tieferen Beschäftigungsgrades. In der Summe wirken sich diese Effekte nachhaltig negativ auf das durchschnittliche Arbeitseinkommen aus (siehe Abbildung 2).

Abb. 2: Monatliches Arbeitseinkommen vor und nach Langzeitarbeitslosigkeit nach Altersgruppe




Anmerkung: Dargestellt ist das monatliche Einkommen aus selbstständiger und unselbstständiger Erwerbstätigkeit vor und nach Beginn der Langzeitarbeitslosigkeit über alle Betroffenen gemittelt. Personen, die nach der Arbeitslosigkeit nicht mehr arbeiten, werden mit einem Arbeitseinkommen von 0 Franken mitberücksichtigt. Die Grafik zeigt somit das erwartete Arbeitseinkommen der Betroffenen und berücksichtigt dabei auch eine mögliche Nichterwerbstätigkeit oder einen reduzierten Beschäftigungsgrad. Allfällige Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung (ALV), der Invalidenversicherung oder der Sozialhilfe sind nicht enthalten.

Liechti und Siegenthaler (2020) / Die Volkswirtschaft

Die Analysen zeigen weiter: Der Verlust an Arbeitseinkommen nach der Arbeitslosigkeit im Vergleich zu vorher ist umso grösser, je länger die Arbeitslosigkeit dauert. Der Einkommensrückgang ist zudem altersabhängig: Er ist am grössten für Personen, die zu Beginn der Arbeitslosigkeit 55 bis 60 Jahre alt sind. Deren Arbeitseinkommen fällt inflationsbereinigt um 63 Prozent – von durchschnittlich rund 4700 Franken pro Monat im dritten Jahr vor der Langzeitarbeitslosigkeit auf 1750 Franken im vierten Jahr danach. Zum Vergleich: Bei den 30- bis 39-Jährigen beträgt der entsprechende Einkommensrückgang 15,5 Prozent.

Einkommen sinken deutlich


Schliesslich schätzen wir den Einfluss einer langen Arbeitslosigkeitsdauer auf das Arbeitseinkommen vertieft mit ökonometrischen Methoden. Die Schätzungen basieren auf einem Vergleich der Einkommen von Langzeitarbeitslosen mit den Einkommen von statistisch vergleichbaren Arbeitslosen, deren Arbeitslosigkeit nur 4 bis 11 Monate dauerte: Eine lange Arbeitslosigkeit reduziert das Arbeitseinkommen der Langzeitarbeitslosen gegenüber der Vergleichsgruppe im Schnitt permanent um ein Viertel bis zu einem Drittel.

Besonders ausgeprägt ist der Einkommenseffekt einer langen Arbeitslosigkeit bei Älteren, bei Niedrigqualifizierten, bei Personen mit einem vergleichsweise hohen Arbeitseinkommen vor der Arbeitslosigkeit und bei Personen, die einen Handels- und Verkehrsberuf oder einen land- und forstwirtschaftlichen Beruf erlernten. Der negative Einkommenseffekt einer langen Arbeitslosigkeit – im Vergleich zu einer kurzen Arbeitslosigkeit – hat sich dabei über die letzten Jahre nicht verändert. Er war bei Personen, die nach der grossen Wirtschaftskrise (2010–2013) neu arbeitslos geworden sind, gleich stark wie bei Betroffenen früherer Jahre.

  1. «Arbeitslose» sind bei einem RAV registriert und für Arbeit verfügbar. Als «erwerbslos» gelten alle Stellensuchenden ohne Arbeit gemäss Vorgaben der International Labour Organisation (ILO). Für eine Definition siehe Seco: Arbeitslosenzahlen[]
  2. David Liechti und Michael Siegenthaler (2020). Situation, Entwicklung und Auswirkungen der Langzeitarbeitslosigkeit. Studie im Auftrag des Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco), mandatiert von der Aufsichtskommission für den Ausgleichsfonds der Arbeitslosenversicherung (AK ALV). []

Zitiervorschlag: David Liechti, Michael Siegenthaler, (2020). Langzeitarbeitslosigkeit hinterlässt Narben im Erwerbsverlauf. Die Volkswirtschaft, 25. Februar.