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Macht Wohlstand glücklich?

Glücksindizes bieten sich als sinnvolle Ergänzung zum Bruttoinlandprodukt an. Ein Zusammenhang zwischen Wirtschaftswachstum und durchschnittlichem Glücksempfinden eines Landes ist zwar umstritten, aber eher positiv.
Laut dem World Happiness Report sind die Menschen in Finnland am glücklichsten. Terrasse vor der Bibliothek Oodi in Helsinki. (Bild: Alamy)

Das Bruttoinlandprodukt (BIP) ist heute mit Abstand die wichtigste Wirtschaftsmetrik, um die Wirtschaftsaktivität eines Landes zu messen. Weil es überall nach den gleichen Regeln erhoben wird, ist es ein nützlicher Indikator für politische Entscheidungsträger. Die Reduzierung der Komplexität einer Volkswirtschaft auf eine einzige Zahl birgt aber auch Nachteile. So enthält das BIP im Prinzip nur Aktivitäten, die mit einem Marktpreis versehen sind. Hausarbeit, Schwarzarbeit oder gar Lebenszufriedenheit des Einzelnen sind hingegen beispielsweise nicht erfasst.

Die US-Nobelpreisträger William D. Nordhaus und James Tobin schlugen schon in den 1970er-Jahren vor, das BIP um unentgeltliche Aktivitäten wie die Hausarbeit zu erweitern.[1] Eine weitere Ergänzung des BIP ist der Human Development Index der UNO. Er enthält unter anderem auch Zahlen zu Gesundheit und Bildung, um den Entwicklungsstand eines Landes abzuschätzen.

In jüngster Zeit nahm die Kritik am BIP immer stärker zu, da zum Beispiel auch weitreichend genutzte digitale Angebote wie Google, Wikipedia oder Social Media nicht erfasst sind, weil für diese nicht mit Geld bezahlt wird. Das Weltwirtschaftsforum (WEF) schlägt vor, die Wirtschaftsleistung eines Landes anhand eines «Dashboards» zu messen. Nebst einem umfassenderen BIP inklusive digitaler Wertschöpfung soll das Dashboard auch Ungleichheiten in der Bevölkerung, soziale Mobilität und Finanzkapital erfassen.

Zufriedenheit als Indikator


Einen wichtigen Beitrag zur Wohlstandmessung vermag die Glücksforschung zu leisten. Ein Grossteil der ökonomischen Glücksforschung verwendet repräsentative Umfragen zur subjektiven Lebenszufriedenheit, welche das «mittelfristige» Glück messen. Im Gegensatz zum «kurzfristigen» Glück erfasst das mittelfristige Glück nicht momentane emotionale Stimmungen, sondern eine grundsätzliche subjektive Einschätzung der eigenen Lebenssituation. In repräsentativen Umfragen wird jeweils die Frage gestellt: «Alles in allem, wie zufrieden sind Sie mit dem Leben, das Sie führen?» Die Antwortmöglichkeiten reichen von einer Skala von «total unzufrieden» (gleich 0) bis zu «total zufrieden» (gleich 10). Wichtige Umfragen sind beispielsweise der Gallup-Poll, der Eurobarometer oder das Deutsche Sozio-Ökonomische Panel (SOEP). Sie können als Wohlfahrtsindizes angesehen werden und bilden eine Grundlage zur Ergänzung des BIP.[2]

Eine gute Übersicht über die subjektive Lebenszufriedenheit in verschiedenen Ländern bietet der World Happiness Report, wo die Schweiz den dritten Platz belegt (siehe Tabelle). Noch glücklicher sind im Durchschnitt nur die Bewohner Finnlands und Dänemarks. Deutschland liegt auf Platz 13, die USA auf Platz 19 und Frankreich auf Platz 21. Die Menschen sind in Entwicklungs- und Schwellenländern mit einem tiefen Pro-Kopf-Einkommen deutlich weniger glücklich, etwa in Argentinien, Nigeria oder Indien. Instabile politische Verhältnisse und Bürgerkriege senken die Lebenszufriedenheit drastisch, wie die Daten für Afghanistan bereits für den Zeitraum 2018 bis 2020 zeigen.

Durchschnittliche Lebenszufriedenheit in ausgewählten Ländern (2018–2020)
















Land (Platz) Lebenszufriedenheit
1. Finnland 7,8
2. Dänemark 7,6
3. Schweiz 7,6
4. Island 7,6
5. Niederlande 7,5
13. Deutschland 7,2
19. USA 7,0
21. Frankreich 6,7
57. Argentinien 5,9
116. Nigeria 4,8
139. Indien 3,8
149. Afghanistan 2,5


Anmerkung: Die Zufriedenheitsskala reicht von «total unzufrieden» (0) bis «total zufrieden» (10). Insgesamt sind 149 Länder erfasst.


Quelle: World Happiness Report (2021) / Die Volkswirtschaft

Neben der subjektiven Lebenszufriedenheit gibt es verschiedene andere Ansätze, «Glück» zu messen. Der sogenannte U-Index erfasst zum Beispiel, während welcher Zeitspanne eines Tages die Befragten sich «unwohl» fühlen. Damit umfasst dieser Index ein weiteres Spektrum des Glücks und ist besser vergleichbar. Überdies stösst diese Messung weniger schnell an die obere Grenze, als dies bei einer Skala von 0 bis 10 wie bei der subjektiven Lebenszufriedenheit der Fall ist.

Das «Easterlin-Paradox»


Einig ist man sich in der Glücksforschung, dass zwischen dem Individualeinkommen und dem Glück zu einem fixen Zeitpunkt ein klarer Zusammenhang besteht. Ein Anstieg des Einkommens steigert die Lebenszufriedenheit, allerdings mit abnehmender Rate. Wenn beispielsweise das persönliche Jahreseinkommen von 100’000 Franken auf 150’000 Franken pro Jahr steigt, nimmt die Lebenszufriedenheit stärker zu, als wenn sich das Einkommen von 500’000 Franken auf 750’000 erhöht.

Demgegenüber ist der Zusammenhang zwischen der durchschnittlichen Lebenszufriedenheit und dem BIP pro Kopf umstritten. Das «Easterlin-Paradox» – benannt nach dem US-Ökonomen Richard Easterlin – besagt, es gebe keinen eindeutigen Zusammenhang zwischen dem BIP pro Kopf und dem Glücksempfinden.[3] Gemäss Easterlins Analysen aus den frühen 1970er-Jahren hängt die Lebenszufriedenheit eines Menschen vielmehr davon ab, mit welcher Referenzgruppe er oder sie sich vergleicht. Weil bei einem Anstieg des BIP häufig auch die Referenzgruppe profitiert, steigt das Glück des Einzelnen nicht unbedingt an. Im Vordergrund steht somit möglicherweise ein Anerkennungsbedürfnis der Befragten.

Das Easterlin-Paradox wird jedoch zunehmend infrage gestellt. Die US-Ökonomen Betsey Stevenson und Justin Wolfers haben anhand von umfassenderen Daten einen eindeutig positiven Zusammenhang zwischen dem BIP pro Kopf und der durchschnittlichen Lebenszufriedenheit festgestellt.[4] Im Gegensatz zu Easterlins Untersuchungen umfasst die Studie von Stevenson und Wolfers auch Schwellenländer wie Mexiko, Argentinien, Brasilien oder Indien.

Aber auch wenn man wie Easterlin nur Industrieländer betrachtet, ändert sich aus heutiger Sicht das Bild. Im Falle Japans argumentierte Easterlin beispielsweise, dass sich das BIP pro Kopf zwischen 1958 und 1987 verfünffachte, die Lebenszufriedenheit aber stagnierte. Während dieser Zeit wurden jedoch die Antwortkategorien der Umfragen stark geändert. Werden diese Veränderungen berücksichtigt, kann auch für Japan ein positiver Zusammenhang zwischen Sozialprodukt pro Kopf und Lebenszufriedenheit festgestellt werden. Auch bei den europäischen Ländern postulierte Easterlin einen sehr kleinen oder gar keinen Zusammenhang zwischen BIP pro Kopf und Lebenszufriedenheit. Mit der erweiterten Datengrundlage wird jedoch ein positiver Effekt für sechs von neun Ländern nachgewiesen.

Eine Ausnahme bilden hingegen die Vereinigten Staaten, wo ein steigendes Pro- Kopf-Einkommen das Glücksempfinden in der Bevölkerung nicht erhöht. Das Paradox lässt sich in diesem Land durch Dynamiken in der Einkommensverteilung erklären. Während der Periode 1972 bis 2006 stiegen die Einkommen der 60 Prozent am wenigsten Verdienenden zwischen 15 Prozent und 20 Prozent, während die Einkommen der 20 Prozent Höchstverdienenden sogar um 60 Prozent zunahmen. Die Früchte des Wachstums in den USA wurden demnach stark ungleich verteilt.

BIP hat Grenzen


Der Zusammenhang zwischen Lebenszufriedenheit und BIP pro Kopf bleibt in der Forschung weiterhin umstritten. Infolge einer besseren Datengrundlage und der Berücksichtigung bisher vernachlässigter ärmerer Länder nimmt die Evidenz für einen positiven Zusammenhang aber tendenziell zu. In Entwicklungsländern ist der Anteil der Armen grösser als in materiell gut gestellten Ländern. Die Armen profitieren hinsichtlich der Lebenszufriedenheit am meisten, wenn sich ihr Einkommen erhöht.

Abschliessend lässt sich somit sagen: Indizes der Lebenszufriedenheit liefern eine wertvolle Ergänzung zum BIP. Denn: Eine Kombination mehrerer Indizes kann ein besseres Bild einer Wirtschaft und einer Gesellschaft zeichnen, als dies ein einzelner Index in der Lage wäre.

  1. Nordhaus und Tobin (1973). []
  2. Frey (2017). []
  3. Easterlin (1974). []
  4. Stevenson und Wolfers (2008). []

Literaturverzeichnis

  • Easterlin, R. A. (1974). Does Economic Growth Improve the Human Lot? Some Empirical Evidence. In: Nations and Households in Economic Growth: 89–125.
  • Frey, B. S. (2017). Wirtschaftswissenschaftliche Glücksforschung: Kompakt–verständlich–anwendungsorientiert.
  • Nordhaus, W. D. und Tobin, J. (1973). Is Growth Obsolete? In: The Measurement of Economic and Social Performance: 509–564.
  • Stevenson, B. und Wolfers, J. (2008). Economic Growth and Aubjective Well-being: Reassessing the Easterlin Paradox, NBER Working paper N°14282.

Bibliographie

  • Easterlin, R. A. (1974). Does Economic Growth Improve the Human Lot? Some Empirical Evidence. In: Nations and Households in Economic Growth: 89–125.
  • Frey, B. S. (2017). Wirtschaftswissenschaftliche Glücksforschung: Kompakt–verständlich–anwendungsorientiert.
  • Nordhaus, W. D. und Tobin, J. (1973). Is Growth Obsolete? In: The Measurement of Economic and Social Performance: 509–564.
  • Stevenson, B. und Wolfers, J. (2008). Economic Growth and Aubjective Well-being: Reassessing the Easterlin Paradox, NBER Working paper N°14282.

Zitiervorschlag: Bruno S. Frey, Fabian Scheidegger, (2021). Macht Wohlstand glücklich. Die Volkswirtschaft, 28. September.