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«Viele ältere Arbeitskräfte fühlen sich biografisch verletzt»

Im Gespräch erklärt der emeritierte Soziologieprofessor François Höpflinger, warum nur ein Drittel über das ordentliche Pensionierungsalter hinaus arbeiten will. Ältere Arbeitnehmende hätten das Gefühl, in den Mitarbeitergesprächen nicht ernst genommen zu werden. Ihre Berufserfahrung zähle nicht. Frust und mangelnde Motivation seien die Folgen.

«Viele ältere Arbeitskräfte fühlen sich biografisch verletzt»

Arbeitet mit 68 Jahren noch weiter: Der Altersforscher François Höpflinger im Foyer des Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco). (Bild: Marlen von Weissenfluh / Die Volkswirtschaft)

Herr Höpflinger, wir wollen über das Alter sprechen: Wie alt fühlen Sie sich?


Ich bin 68, und je nach Tag fühle ich mich subjektiv jünger… Heute vielleicht wie 64 (lacht).

Sie sind seit drei Jahren emeritierter Professor. Sie forschen aber immer noch. Was motiviert Sie, weiterzuarbeiten?


Bereits vor sieben Jahren habe ich mich selbstständig gemacht. Das gibt mir die Freiheit, das zu machen, was ich will. Dadurch bin ich nicht mehr so stark an die Projekte der Universität Zürich gebunden. Ich habe viele Projektanfragen. Das Thema Alter ist hoch im Kurs. Zugleich kann ich meine Rente aufbessern.

Sie gehören zu einer Minderheit. Zwei von fünf Arbeitnehmenden lassen sich frühpensionieren, wie ein Forschungsbericht des Bundesamtes für Sozialversicherungen zeigt. Nur ein Drittel arbeitet über das ordentliche Pensionierungsalter hinaus. Warum ist das so?


Viele haben nach einer stressigen Arbeitsphase genug und müssen ausschnaufen. Wir haben in unseren Befragungen zudem festgestellt: Viele ältere Arbeitskräfte fühlen sich sogenannt biografisch verletzt und wollen deshalb aufhören.

Wie ist das zu verstehen?


Sie haben das Gefühl, in den Mitarbeitergesprächen nicht ernst genommen zu werden. Ihre Berufserfahrung zählt nicht. Nehmen wir beispielsweise eine Kantonsverwaltung, in der das Gesundheitsdepartement schon die vierte Reorganisation durchführt. Die letzten drei hat ein älterer Mitarbeiter engagiert mitgemacht. Jedes Mal haben die Modelle aber nicht funktioniert. Jetzt weiss er: Es wird wieder nichts. Im Mitarbeitergespräch erhält er kein Gehör. Das ist frustrierend.

Dann ist nicht das Alter per se das Problem?


Richtig. Die Leute sind zu lange am gleichen Arbeitsplatz. Mangelnde Motivation und fehlende Weiterbildung sind die grossen Themen. Und: Viele Babyboomer, die heute kurz vor der Pensionierung stehen, sind in alten Konzepten gefangen. Diese Gruppe weist Langzeitrisiken auf.

Können Sie ein Beispiel geben?


Arbeitnehmende, die auf analoge Systeme spezialisiert sind, haben Mühe mit der Digitalisierung. Ein anderes Beispiel sind Start-ups: Wenn 60-jährige Führungspersonen ein Start-up gründen, schreiben sie lange an einem Konzept –  alles schön hierarchisch gegliedert. Bei den Jungen der Sharing-Economy ist diese Phase viel kürzer. Sie bringen erst mal eine Betaversion auf den Markt.

Geht es um mangelnde Anpassungsfähigkeit?


Ja, ausser bei Leuten, die in Branchen mit einer starken physischen Belastung arbeiten. Da ist das biologische Alter weiterhin ausschlaggebend.

Bei Bauarbeitern?


Beispielsweise. Oder bei chemischen Belastungen. Es zeigt sich aber: Bauarbeiter können sich nach der Pensionierung erstaunlich gut erholen und sind dann bereit, kleinere Arbeiten zu übernehmen. Manche Berufe sind zudem psychisch belastend, beispielsweise in der Psychiatrie. Da nützt eine Weiterbildung nichts. Die Leute brauchen einfach einmal ein paar Wochen Zusatzferien oder eine Abwechslung – sogenannte Sabbaticals. Dann sind sie länger produktiv.

Wie schätzen sich die 65-Jährigen selbst ein? Fühlen sie sich noch kompetent genug, um weiterzuarbeiten?


Einige ältere Arbeitnehmende überschätzen ihren Marktwert sogar. Das merken wir bei Generationenprojekten. Sie schätzen den Wert ihrer Erfahrung zu hoch ein und akzeptieren die gesellschaftlichen Veränderungen nicht. Das trifft vor allem auf Männer mit hierarchischen Karrieremustern zu.

Sollten wir uns nicht einfach den Luxus gönnen, den Lebensabend zu geniessen?


Die sogenannte Dreiteilung des Lebens müssen wir überdenken. Die Aufteilung des Erwachsenenlebens in eine Bildungs-, eine Erwerbsarbeits- und eine Ruhephase gilt zukünftig nicht mehr. Das Stichwort heisst vielmehr lebenslanges Lernen oder lebenslanges Aktivsein. Dazu passt auch das Modell des produktiven Alters, womit ich nicht nur die Erwerbstätigkeit meine, sondern auch die Freiwilligenarbeit, die kreative Arbeit oder die Enkelbetreuung.

Die Selbstbestimmung scheint zentral nach 65.


Die heutigen Pensionäre sind wirtschaftlich abgesichert. Sie machen primär das, was sie wollen. Ein Babyboomer, den ich interviewt habe, macht beispielsweise in Nepal Entwicklungshilfeprojekte und lernt dabei eine andere Kultur und eine neue Sprache kennen. Er ist sogar stärker beschäftigt als vorher. Aber: Es ist in einem neuen Rahmen. Andere nutzen die Möglichkeit, als Reservearbeitskraft – auf Abruf – zu arbeiten. Es gibt ja die Onlineplattform «Rent a Rentner», wo man einen Rentner beispielsweise für Rasenmähen engagieren kann.

Die Rentner als Reservearbeitskräfte?


Ja. Früher bildeten junge Frauen oder ausländische Saisonniers diese Reserve – das verlagert sich jetzt ins Alter. In London gab es ein Pilotprojekt in einem Supermarkt der Kette Sainsbury’s. In den Sommermonaten – also während der Ferien der jungen Kassiererinnen – arbeiten an ihrer Stelle Frauen im Alter zwischen 70 und 85 Jahren. Die Jungen fühlen sich durch diese Älteren nicht konkurrenziert.

Schafft das gesamtwirtschaftlich mehr Stellen?


Nein. Das Arbeitszeitvolumen erhöht sich wohl nicht wesentlich.

Wer länger lebt, kann auch länger arbeiten?


Es gibt immer mehr Leute, welche gesund sind und länger arbeiten können. Die Erwerbsquote bei den 65- bis 69-Jährigen steigt deshalb an. Langfristig wird die Erhöhung des Rentenalters auf 67 Jahre nicht zu umgehen sein.

Senioren wollen offenbar weiterarbeiten, einfach nicht am alten Arbeitsplatz.


Ja. Deshalb nimmt im Rentenalter auch die Schwarzarbeit zu. Die Leute wollen etwas machen – am liebsten natürlich gegen Cash.

Gibt es Berufsgruppen, die grundsätzlich länger arbeiten wollen?


Ja, insbesondere Akademiker in Dienstleistungsberufen wie Ärzte, Apotheker und Berater. Sie machen sich in einer späteren Lebensphase häufig selbstständig.

Nehmen die Alten den Jungen die Jobs weg?


Alle ökonomischen Modelle zeigen: Das stimmt grundsätzlich nicht. In Frankreich wollte man mit einer verstärkten Frühpensionierung die Jugendarbeitslosigkeit reduzieren – das hat aber nicht geklappt.

Warum?


Die Arbeitsplätze der Älteren wurden gestrichen. Es gibt aber gewisse Berufe, wo die Älteren die Jungen tatsächlich konkurrenzieren. Beispielsweise bei den Fotografen: Junge Fotografen werden zum Teil konkurrenziert durch günstigere pensionierte Kollegen. Ähnliches gilt fürs Coaching, wo Ältere über die grösseren Netzwerke verfügen.

Politisch hat die Erhöhung des Rentenalters keine Chance. Warum tut sich die Schweiz diesbezüglich so schwer?


In den Köpfen ist das Rentenalter eine fixe Grösse. Bisher konnte sich die Schweiz diesen Luxus leisten. Dank der Zuwanderung war sie nicht so stark auf die älteren Arbeitskräfte angewiesen. Das ändert sich nun. Sogenannte Punktlandungen beim Stellenprofil sind nicht mehr so einfach: Bisher stellten die Arbeitgeber nur Personen ein, die zu 100 Prozent auf die Stelle passten. Eine ältere Person passt aber vielleicht nur zu 95 Prozent. Im Kanton Thurgau ist bei den KV-Stellen erstmals in diesem Jahr zu beobachten, dass mehr Jobs ausgeschrieben werden, als es Bewerbungen hat. Da muss nun etwas geschehen.

Die Migration ist in diesem Zusammenhang ein wichtiges Thema.


Die Zuwanderung ist unbestritten eine Strategie zur demografischen Verjüngung. Sie vermag die sinkenden Geburtenraten zu stabilisieren – hingegen ist sie nicht das richtige Mittel in Bezug auf die steigende Lebenserwartung. Die zentrale Frage ist: In welchem Ausmass ist die Zuwanderung politisch möglich?

Weil Zuwanderung zu Konflikten führt.


Genau. Umgekehrt sind die Probleme bei der Abwanderung noch grösser. Es gibt bisher kaum Beispiele, wie eine Gesellschaft einen Bevölkerungsrückgang erfolgreich bewältigt.

In der Schweiz liefern doch die Berggebiete Anschauungsmaterial.


Ja. Diesbezüglich gab es jedoch in der Schweiz bereits in den Dreissigerjahren Ängste. Damals wies das Land eine der tiefsten Geburtenraten Europas auf. Im Jahr 1941 rechnete der Gotthardbund (Schweizer Widerstandsgruppe im Zweiten Weltkrieg, Anm. d. Red.) für das Jahr 2000 noch mit 2,8 Millionen Einwohnern. Ein paar Jahre später wurde die befürchtete demografische Alterung als Argument gegen die Einführung der Altersvorsorge verwendet.

Zurück zur Erhöhung des Rentenalters. Die Nachbarländer Italien und Deutschland planen, das Rentenalter auf 67 Jahre zu erhöhen.


Das Volk kann dort eben nicht mitbestimmen, zudem sind die Rentenprobleme in diesen Ländern grösser: Die Renten sind erstens tiefer, das heisst, mehr Pensionäre sind darauf angewiesen, weiterzuarbeiten. Und zweitens gibt es beispielsweise in manchen europäischen Ländern verhältnismässig mehr Alte als in der Schweiz, da dort die Zuwanderung geringer ausfiel.

Ist das Argument der sogenannten Überalterung auch Angstmacherei?


Ich habe die früheren Demografieprognosen genauer angeschaut. Was man immer unterschätzt hat, waren die steigende Lebenserwartung, die Zuwanderung und die wachsende Erwerbsquote der Frauen. In den Neunzigerjahren standen strategische Überlegungen der Finanzindustrie hinter der Angstmacherei. Die Pensionskassen und die Versicherungen waren damals daran interessiert, das Umlageverfahren der Altersvorsorge infrage zu stellen, um Modelle des Kapitaldeckungsverfahrens zu fördern.

Wie ist die Situation heute?


Die höhere Pensionierungswelle und der Personalmangel sind Tatsachen. Von den in der Pflege arbeitenden Angestellten werden in 20 Jahren um die 60 Prozent pensioniert sein: Mit der Zahl der Neuausgebildeten kann diese Lücke nicht gestopft werden. Bei den Hausärzten liegt das Durchschnittsalter bei 55 Jahren. Für jeden Hausarzt, der pensioniert wird, brauchen wir um die 1,8 Personen, die eine Ausbildung absolvieren. Der Grund: Die Jüngeren arbeiten nicht mehr Vollzeit oder wechseln in andere Berufsbranchen.

Viele Ärzte kommen heute aus dem Ausland.


Die Frage ist, ob das noch funktioniert, wenn aufgrund der demografischen Entwicklung europaweit Gesundheitspersonal gesucht wird. In der Schweiz haben Alters- und Pflegeheime angefangen, das Personal besser zu betreuen und mit Kitas und Tagesstätten zu verknüpfen. Denn es gilt: Ein Unternehmen, das für jüngere Fachleute attraktiv ist, hat einen Wettbewerbsvorteil. Aus Unternehmenssicht kann es durchaus Sinn machen, bei den Jüngeren zu rekrutieren, solange es diese noch gibt. Der Kampf um die produktiven Alten wird erst später richtig losgehen.

Macht es aus wirtschaftlicher Sicht Sinn, die Leute länger zu beschäftigen?


Ja, durchaus. Der Arbeitsmarkt wird flexibler. Ein Rentner kann beispielsweise für jemanden einspringen, der vier Monate unbezahlten Urlaub machen will. Die jüngere Person fühlt sich besser gesichert, wenn sie weiss: Die ältere Person nimmt mir den Job nicht weg. Zudem dürfen wir nicht vergessen: Es wird immer mehr Personen im Pensionsalter geben, die aufgrund von Lücken in der Vorsorge weiterarbeiten müssen. Überspitzt formuliert, kann man sagen: Die Babyboomer-Generation, die jetzt in Rente kommt, ist wohlstandsverwöhnt.

Inwiefern?


Die Babyboomer konnten stark von einem sicheren Arbeitsmarkt mit festen Stellen und Karrieremöglichkeiten im gleichen Betrieb profitieren. Wenn man die Leute, die jetzt pensioniert werden, fragt, ob sie in ihrem Erwerbsleben jemals länger als drei Monate eine Stelle suchen mussten, sagen nur 5 Prozent Ja. Bei den Jungen ist das über ein Viertel. Das kann zum Problem werden. Jemand, der mit 55 Jahren erstmals arbeitslos wird, hat kaum Erfahrung, wie man sich bewerben muss. Und bei der zweiten Säule profitieren sie von höheren Renten, als ihnen eigentlich zustehen würde. Somit haben wir ein Übergangsproblem.

Wie lange wird diese Übergangsphase dauern?


Bis sich Arbeitsmarkt, Unternehmen und Politik an die neuen demografischen Rahmenbedingungen angepasst haben, dürften in der direktdemokratischen Schweiz gut zehn Jahre verstreichen.

Macht es soziologisch Sinn, dass die Menschen länger arbeiten?


Ja – wenn man das längere Arbeiten mit Ruhephasen, Weiterbildung und Gesundheitsförderung kombiniert. Es gibt ja den Spruch: Wir müssen lernen, das Arbeitsleben nicht als Sprint zu sehen, sondern als Langstreckenlauf. Genau so ist es. Ein Berufswechsel kann ebenfalls eine Lösung sein: Warum nicht mit 50 eine neue Lehre machen? Bildungseffekte wirken sogar bei 100-Jährigen noch nach.

Inwiefern?


Gutgebildete haben ein höheres Lohnniveau. Sie können mit Problemen und Veränderungen besser umgehen. Sie sind aktiver und haben ein geringeres Demenzrisiko.

Was ist mit der biologischen Alterung?


Auch sie hat sich verschoben. Früher dachte man, es gäbe feste biologische Grenzwerte. Bis man feststellte, dass man auch noch mit 70 neue Hirnzellen bilden kann. Viele früher definierten biologischen Parameter stimmen nicht mehr.

Wenn nicht bei 65 Jahren – wo liegt dann die Altersgrenze?


Nach 80 nimmt im Allgemeinen die Fragilität zu. Ab diesem Alter steigt das Risiko von Hilfs- und Pflegebedürftigkeit.

Man könnte also bis 80 arbeiten?


Bestimmt, aber sicherlich nicht unter den gleichen Leistungsbedingungen.

Zitiervorschlag: Nicole Tesar (2016). «Viele ältere Arbeitskräfte fühlen sich biografisch verletzt». Die Volkswirtschaft, 24. Oktober.

François Höpflinger

Der 68-jährige François Höpflinger war von Sommer 1994 bis Frühling 2013 Titularprofessor für Soziologie an der Universität Zürich. Seit 2009 arbeitet er selbstständig. Er widmet sich Forschungs- und Beratungstätigkeiten zu Alters- und Generationenfragen. Höpflinger lebt in Horgen. Er hat zwei Kinder und vier Enkelkinder.