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Neue Technologien wecken Befürchtungen – und Hoffnungen

Kontrollverlust und Wettbewerbsdruck – die Folgen der Digitalisierung machen vielen Bürgern Angst. Doch der Wandel bringt auch Gutes: Denn die neuen Möglichkeiten fördern das Verantwortungsbewusstsein und die Partizipation der Bevölkerung.

Neue Technologien wecken Befürchtungen – und Hoffnungen

Verbesserung der Lebensqualität oder zunehmende Abhängigkeit? Teilnehmer am World Economic Forum in Davos mit Virtual-Reality-Brillen. (Bild: Keystone)

Seit der Jahrtausendwende befinden wir uns in einer dynamischen Neukonfiguration technischer, ökonomischer, politischer und sozialer Strukturen. Die Zukunftsstudie[1] des Marktforschungsunternehmens GIM hat sich zum Ziel gesetzt, die Zusammenhänge dieser Veränderungen aufzuzeigen und eine Wertelandschaft 2030 zu skizzieren. In einer repräsentativen Onlineumfrage wurden dafür 1000 Personen in Deutschland zu Wertethesen befragt, die aus Gesprächen mit etablierten und aufkommenden Experten abgeleitet wurden (siehe Kasten). Die Grundlage zur Messung der Werteverschiebungen bilden die identifizierten Megatrends Algorithmisierung, Verwertung, Gestaltung, Fragmentierung und Re-Lokalisierung.

Mehr Komfort dank künstlicher Intelligenz


Der momentan einflussreichste Megatrend ist die Algorithmisierung. Durch die Verkleinerung, die Verbreitung und die Vernetzung von Computern beginnt unsere nicht menschliche Umwelt auf uns zu reagieren und selbst Entscheidungen zu fällen. Das sogenannte Internet der Dinge bringt den Menschen Komfort und Sicherheit – mit Smart Homes, intelligenten Kühlschränken, Pflegerobotern oder autonomen Fahrzeugen. Andererseits kann diese Entwicklung aber auch einen Verlust persönlicher Freiheiten bringen, weil Maschinen und Algorithmen uns ständig Entscheidungen vorwegnehmen.

Der Megatrend Verwertung hängt ebenfalls stark mit der Digitalisierung zusammen. Menschen verwandeln immer mehr persönliche Daten, Privateigentum, ja sogar die eigene Person in Ressourcen. Das bedeutet, dass immer mehr Lebensbereiche einer Bewertung unterzogen werden: Auf Airbnb können wir unserer Wohnung einen Wert zuschreiben, dank Fitbit-Armbändern hohe Fitnesswerte bei der Krankenversicherung in Rabatte umwandeln, und das «Quantified Self» kann unsere Persönlichkeit in sozialen Medien in Szene setzen und so den entscheidenden Vorteil bei der Job- oder Partnerwahl liefern. Dieses Verwertungsstreben führt dazu, die Lebensläufe stetig zu optimieren.

Gegentrend Urban Gardening


Die Gestaltung des Selbst und der Umwelt wird zukünftig eine nie da gewesene Eingriffstiefe und Reichweite erleben. Die schiere Möglichkeit, uns selbst und die Umwelt zu vermessen, zu analysieren und zu modellieren, bestärkt den Anreiz, gestalterisch einzugreifen. Die schöpferische Einflussnahme vollzieht sich sowohl im ganz Grossen, wie etwa beim Climate Engineering, als auch im ganz Kleinen, wie bei Genmodifikationen.

Der Gestaltungstrieb könnte aber auch neue Gräben aufreissen. Nämlich zwischen Personen, welche die Selbstoptimierung auf die Spitze treiben, und solchen, die das nicht tun. Die Gefahr einer solchen Fragmentierung verläuft zudem entlang zusätzlicher Linien wie Weltanschauung, Wissen, Informations- und Technologiekompetenz, Kapital und Gesundheitszustand.

Letztlich bietet der Megatrend der Re-Lokalisierung aber auch eine Rückbesinnung auf die lokale Verwurzelung – sozusagen als Gegentrend zu Mobilität und Virtualisierung. Die Rückkoppelung an die direkte Umwelt ermöglicht es den Menschen, sich zu erden – wie etwa beim Urban Gardening. Die vielen neu gegründeten Kooperativen belegen ausserdem eine Neugewichtung des Kommunalen.

Wertelandschaft 2030


Die Auswirkungen der Megatrends auf unseren Lebensalltag ist das eine – unsere Studie untersuchte zudem, wie diese Megatrends bewertet werden: Was ist den Menschen heute und in Zukunft im Leben wichtig? Dazu befragten wir 1000 deutsche Bürger und die bereits involvierten sowie zusätzliche Experten. Basierend auf den Megatrends, wurden 33 Wertethesen abgeleitet und gefragt, wie fest die Thesen auf einer Skala von 0 bis 100 heute und im Jahr 2030 zutreffen.

Durch die Differenz zwischen dem heutigen Wert und dem vorausgesagten Wert für das Jahr 2030 lässt sich die Dynamik dieser Veränderung aufzeichnen. Ausserdem wurde nach der Erwünschtheit dieser Entwicklungen gefragt. Die Resultate zeigen, dass alle aufgestellten Wertethesen auch in Zukunft noch relevant sein werden. In ihrer Dynamik und Erwünschtheit unterscheiden sie sich aber stark.

Unliebsame Veränderungen


Die Durchschnittsbevölkerung und die Experten, die teilweise auch aus der Schweiz stammen, liegen in ihrer Einschätzung der Wertedynamik recht nahe beieinander. Die zentralen Erkenntnisse sind deshalb vermutlich gut auf die Schweiz übertragbar. Allerdings gibt es zwischen Bevölkerung und Experten auch ein paar wenige, aber markante Unterschiede, was die Erwünschtheit der Wertefelder angeht. Bei einigen Wertefeldern könnte es also durchaus Schweiz-spezifische Eigenheiten geben.

Bei den Bürgern zeigt die Wertelandkarte ein deutliches Spannungsverhältnis (siehe Abbildung 1): Die meisten Wertefelder liegen im linken oberen Quadranten. Das bedeutet, dass sie aus Sicht der Bevölkerung sehr erwünscht sind und dass sich diese Wertegruppen voraussichtlich nur schwach weiterentwickeln werden. Ausserdem liegen viele Wertefelder im rechten unteren Viertel, wo sie wenig erwünscht sind, aber eine starke Dynamik aufweisen. Dieses Muster zeigt eine negative Korrelation, die besagt: Je stärker die Befragten mit zukünftigen Veränderungen rechnen, desto weniger erwünscht sind diese aus ihrer Sicht.

Abb. 1: Hoffnungen und Befürchtungen von Bürgern und Konsumenten




 

Experten haben weniger Sehnsuchtsfelder


Bei den Experten sind die Wertefelder hingegen nahezu gleichmässig im Spektrum verteilt (siehe Abbildung 2). Besonders auffällig: Heimat und Tradition ist ihnen weniger wichtig als den Bürgern. Dafür erhoffen sie sich mehr Mobilität und gehen auch davon aus, dass dies in Zukunft tatsächlich eintreffen wird.

Abb. 2: Hoffnungen und Befürchtungen aus Expertensicht




Relativ grosse Übereinstimmung zwischen Bürgern und Experten herrscht bei den Wertethesen zu Algorithmisierung und künstlicher Intelligenz: Alle gehen von einer starken Entwicklung aus. Die Bedenken beim Wertefeld Geborgenheit im Digitalen betreffen die unerwünschten Nebeneffekte neuer Technologien. Bürger und Experten messen den Vorzügen eines digitalen Kokons, der uns umgibt, offensichtlich weniger Gewicht bei als den Befürchtungen, die mit einer solchen Bevormundung einhergehen. So wird befürchtet, dass die Menschheit vermehrt Entscheidungen an Computerprogramme abgeben wird. Damit gewinnen wir zwar Zeit, Komfort sowie personalisierte Produkte und Dienstleistungen. Gleichzeitig geben wir aber auch immer öfter die Souveränität über unsere Daten im Internet auf.

Die Befragten befürchten auch eine Zunahme des Wettbewerbs. Die Möglichkeiten, unsere Leistung zu optimieren, sind reell. Diese können gleichzeitig zu einem Zwang zur Leistungssteigerung führen: Wer sich nicht ständig weiterbildet und verbessert, wird gesellschaftlich immer schneller abgehängt. Es besteht die Gefahr, zu stark auf messbare Leistungserfolge wie Intelligenztests, Anzahl von Weiterbildungstiteln oder Kontakten in sozialen Medien zu fokussieren.

Sehnsucht nach guten alten Zeiten


Auffallend sind auch die Sehnsuchtsfelder Tradition und Heimat, Reale Nähe sowie Gerechtigkeit und Solidarität. Diese Werte sind zwar hoch erwünscht, werden voraussichtlich aber nicht an Relevanz gewinnen. Interessanterweise trauern die Experten nur dem Wertefeld Tradition und Heimat nicht besonders nach. Die Besinnung auf die eigene Herkunft, auf lokale Handwerkskunst oder lokale Sitten ist laut ihnen nicht stärker erwünscht, als dies heute und in Zukunft sowieso der Fall sein wird. Für die Experten sind andere Werte wünschenswerter; dazu gehört das Wertefeld Wahlgemeinschaften, welches beispielsweise auch neue Formen der Innovation und Kreativität hervorbringt. Diese werden dank einer besseren Vernetzung künftig seltener im Alleingang, sondern öfter in interessenorientierten, zeitlich begrenzten Bündnissen erbracht.

Mehr Information – mehr Verantwortung


Die Bevölkerung und die Experten auf Technikpessimisten und Verklärer der Vergangenheit zu reduzieren, wäre allerdings falsch. Denn es gibt ein zentrales Wertefeld, das alle mit Hoffnung erfüllt: Mehr Verantwortung ist hoch erwünscht.  Experten und Bürger erwarten, dass das Verantwortungsbewusstsein in Zukunft überdurchschnittlich zunehmen wird. Je mehr wir wissen und erfahren können, desto stärker können und müssen wir Verantwortung für unser Handeln übernehmen.

Nachhaltigkeit ist deshalb nicht einfach eine schöne Marketinghülle: Fair Trade, Bio, umweltschonendes Verhalten etc. werden immer stärker zur gesellschaftlichen Norm. Und wir werden künftig auch aktiver die Welt nach unseren Vorstellungen gestalten. Dank Digitalisierung und Vernetzung können wir uns schneller und unkomplizierter organisieren. Damit wird es wieder attraktiver, an gemeinschaftlichen Projekten zu partizipieren.

Neue Balance Mensch – Maschine


Die Megatrends Algorithmisierung, Verwertung, Gestaltung, Fragmentierung und Re-Lokalisierung sind auch in den nächsten Jahren die grossen Themen. Viele Menschen erkennen darin Chancen: Verantwortungsübernahme, bewusster Konsum und Partizipation stehen für die hoffnungsbesetzten Facetten dieser Entwicklungen. Andererseits wird auch befürchtet, von neuen Technologien abhängig zu werden und sich einem verschärften Wettbewerb stellen zu müssen. Abhilfe bieten Entschleunigung und die physische Präsenz von Angeboten und Menschen. Es geht um authentische Erlebnisse, um regional fassbare Unternehmen und Institutionen, zu denen man einen Bezug hat. Hierfür müssen Unternehmen und Institutionen berechenbarer werden – und dafür braucht es Transparenz über die gesamte Wertschöpfungs- und Entscheidungskette hinweg.

Bürger und Kunden wollen aber nicht nur verstehen können, sondern auch mitgestalten und mitbestimmen. Die Werteorientierungen, die sich heute schon abzeichnen, bieten grosses Potenzial, eine starke und proaktive Bürgergesellschaft in Politik und Wirtschaft einzubinden.

  1. Fernow, H., Hauser, M., & Huber, B. (2017). Values & Visions 2030 – Was uns morgen wichtig ist. Heidelberg: GIM Gesellschaft für Innovative Marktforschung mbH. Mehr Informationen unter Values-visions-2030.com. []

Zitiervorschlag: Mirjam Hauser (2017). Neue Technologien wecken Befürchtungen – und Hoffnungen. Die Volkswirtschaft, 23. November.

Die Studie im Detail

Die Erkenntnisse zur Zukunftsstudie «Values & Visions 2030» beruhen auf verschiedenen methodischen Bausteinen. So wurden etwa die fünf Megatrends Algorithmisierung, Verwertung, Gestaltung, Fragmentierung und Re-Lokalisierung mit einem qualitativen Ansatz eruiert. In einem ersten Schritt wurde eine fundierte Sekundäranalyse der relevanten Literatur durchgeführt. Daraus wurden ausgewählte Themen in vier «Future Lounges» von 17 jungen Experten aus der Wissenschaft und der Start-up-Szene in Berlin, Heidelberg und Zürich diskutiert und weiterentwickelt. Die Ergebnisse wurden wiederum in einer sogenannten Delphi-Validierung anhand persönlicher oder telefonischer Gespräche mit 19 renommierten Wissenschafts- und Praxisexperten aus Deutschland, der Schweiz und Nordamerika analysiert. Die abgeleiteten Wertethesen wurden dann mittels einer repräsentativen Onlinebefragung mit 1000 deutschen Bürgern und 46 Experten empirisch quantifiziert und zu acht Wertefeldern verdichtet.