Warum es die Gasleitung auch in Zukunft braucht

Die Gasleitung braucht es auch in Zukunft. Bereits heute ist es technisch möglich, Strom in Gase umzuwandeln und umgekehrt. (Bild: Keystone)
Aktuell verbraucht die Schweiz mehr als 12 Prozent ihrer Energie in Form von Erdgas.[1] Mit der Energiewende wird dieser Anteil sinken. Laut Berechnungen des Bundesamts für Energie (BFE) könnte der jährliche Verbrauch aus fossilen Quellen im Jahr 2050 nur mehr 10 Petajoule ausmachen, das sind weniger als 1 Prozent des für dann prognostizierten Energieverbrauchs (siehe Abbildung 1). Jener von Erdgas wird auf 6 Petajoule geschätzt: Dies entspricht etwa dem Heizbedarf von rund 110’000 Einfamilienhäusern.
Werden damit die Gasleitungen überflüssig, und müssen sie rückgebaut werden? In dieser Frage ist Vorsicht angebracht. Das Gasleitungsnetz bietet nämlich zahlreiche Vorteile gegenüber dem Stromnetz, die in der Schweiz – auf jeden Fall aus jetziger Perspektive – nicht unbeachtet bleiben sollten.
Abb. 1: Der Erdgasverbrauch in der Schweiz beträgt 2050 nur noch 6 Petajoule (Basisszenario)
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Hohe Transportkapazitäten, stabilisierend und kostengünstig
Eines der wichtigsten Argumente für Gasleitungen ist ihre Effizienz: Zum Beispiel kann eine Erdgasleitung mit einem Durchmesser von einem Meter etwa fünf Mal so viel Energie in Form von Energiegasen transportieren wie eine Hochspannungs-Stromleitung (siehe Abbildung 2).[2] Mit Energiegasen sind hier neben klassischem Erdgas auch Wasserstoff, Biogas und synthetisches Methan und synthetisches Erdgas gemeint.
Ein weiteres Argument ist die Stabilität: Ein Gasnetz reagiert robust auf kurzzeitige Schwankungen auf der Nachfrageseite. Im Unterschied zum Stromnetz muss nicht zu jedem Zeitpunkt gleich viel Energie ins System eingebracht werden, wie gerade verbraucht wird. Mit der Zunahme der erneuerbaren Energien – vor allem Solar- und Windenergie – treten tendenziell mehr Fluktuationen auf, weil beispielsweise Wolken und Windböen Schwankungen in der Stromproduktion von Fotovoltaik (PV) respektive Windenergie verursachen. Die puffernde Eigenschaft des Gasnetzes wirkt daher stabilisierend.
Ausserdem sind der Ausbau und die Wartung von Gasleitungen in der Regel günstiger als die von Stromnetzen. Ein vollständiger Rückbau von Gasleitungen würde bedeuten, dass sehr viel neue Infrastruktur für Stromnetze gebaut werden müsste. Dies ist nicht nur sehr teuer, sondern auch politisch herausfordernd, wie zahlreiche hängige Bewilligungsverfahren für Windräder oder Solaranlagen zeigen.
Abb. 2: Fünf Hochspannungsleitungen und eine Erdgasleitung mit einem Meter Durchmesser transportieren ungefähr die gleiche Energiemenge
Aus Strom wird Gas und dann wieder Strom
Hinzu kommen technische Neuerungen: Zukünftig wird die Gasinfrastruktur nicht mehr länger ein abgekoppelter Teil des Energiesystems sein. Die Integration ins Gesamtsystem, die sogenannte Sektorkopplung, wird mit fortschreitender Energiewende immer wichtiger. Darunter versteht man die Integration und die Verknüpfung der Energieversorgung der Sektoren Strom, Wärme, Verkehr und Industrie, um durch den Einsatz erneuerbarer Energien eine effiziente und nachhaltige Energieversorgung zu ermöglichen.
Bereits heute ist es technisch möglich, Energie zwischen den Sektoren umzuwandeln, indem Strom in Gase und Gase in Strom zurückgewandelt werden. Zum Beispiel kann mittels Wasserelektrolyse aus Strom Wasserstoff produziert werden, der durch Methanisierung zu Methangas wird. Diese Energiegase können in den heutigen Gasleitungen transportiert und am Bestimmungsort durch Brennstoffzellen oder durch Kraft-Wärme-Kopplung wieder in Strom zurückgewandelt werden. Zurzeit untersucht die Ostschweizer Fachhochschule im Innosuisse-Projekt Greenhub zusammen mit 16 Partnern, wie durch diese Technik die Winterstromlücke teils geschlossen werden kann.
Die alte Gasinfrastruktur für erneuerbare Energien nutzen
Die bestehende Gasinfrastruktur kann also nicht nur für Erdgas, sondern auch für erneuerbare Gase wie Biogas oder synthetisches Methan (siehe oben) genutzt werden. Denn alle drei Gase bestehen überwiegend aus Methan, was bedeutet, dass keine wesentlichen Anpassungen am Netz erforderlich sind. Das gilt auch für Beimischungen von Wasserstoff bis zu einem Volumenanteil von 20 Prozent, wie das EU-Forschungsprojekt Higgs, an dem die Ostschweizer Fachhochschule auch beteiligt war, gezeigt hat.
Beim Transport von reinem Wasserstoff stellen sich jedoch besondere Herausforderungen, was je nach Zustand des jeweiligen Leitungsnetzes Anpassungen an bestimmten Komponenten wie Rohren oder Dichtungen erfordert: [3] Wasserstoff ist ein kleineres Molekül als Methan, was dazu führt, dass es leichter durch Dichtungen entweichen kann. Darüber hinaus können bestimmte Metalle bei Kontakt mit Wasserstoff verspröden. Auch hat Wasserstoff ein geringeres Volumen pro Energiemenge, was Anpassungen im Druckniveau oder bei der Strömungsgeschwindigkeit notwendig macht. Schliesslich bildet Wasserstoff mit Luft leichter explosive Gemische als Methan. Diesem Umstand kann mit Sicherheitsvorkehrungen über spezielle Sensoren und Ventile begegnet werden.
Abb. 3: Ungewiss: Je nach Szenario ist der Verbrauch verschiedener Gase höher oder tiefer
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Vieles liegt im Ungewissen
Weltweit wird mit Hochdruck an neuen Lösungen für die Energiewende geforscht, mit zum Teil sehr vielversprechenden Resultaten. Trotzdem kann aktuell niemand mit Bestimmtheit sagen, wie der Energiemix im Jahr 2050 tatsächlich aussehen wird. Die Energieperspektiven des Bundesamts für Energie tragen diesem Umstand Rechnung, indem verschiedene Szenarien dargestellt werden.
Im Basisszenario geht das BFE davon aus, dass erneuerbare Energien wie Fotovoltaik und Windkraft die Hauptrolle spielen (siehe Abbildung 1). Im Szenario B übernehmen Biogas und strombasierte Gase (Power-to-Gas) neben der Elektrizität eine wichtige Rolle im Energiesystem (siehe Abbildung 3). Man geht auch im Szenario B davon aus, dass bis auf einen kleinen Rest Erdgas der Bedarf mit erneuerbaren Gasen (Biogas, Wasserstoff, synthetisches Methan) gedeckt wird. Sollte sich dieses Szenario durchsetzen, würden Gasleitungen erst recht wieder gebraucht.
Weil technisch viele Fragen offen sind, sollte sich die Schweiz in ihrer Energiestrategie mehrere Optionen offenhalten, über einen gesunden Wettbewerbsdruck zwischen den Versorgern die Innovation fördern und damit eine nachhaltige und auch preiseffiziente Energiezukunft gewährleisten.
Literaturverzeichnis
- Bundesamt für Energie – BFE (2020). Energieperspektiven 2050+.
- Bundesamt für Energie – BFE (2024). Überblick über den Energieverbrauch der Schweiz im Jahr 2023. Auszug aus der Schweizerischen Gesamtenergiestatistik 2023. Juni.
- Fraunhofer Institute for Integrated Circuits IIS (2021). Gas Pipelines for Hydrogen? Interview mit Dr. Thomas Hüwener und Prof- Dr. Alexander Martin.
- Nemec, R. (2024). Hydrogen-Blend Pipelines: Fast-Tracking Innovations Leading Fossil Fuel Resurgence. Pipeline and Gas Journal. Vol. 251.
- Österreichische Vereinigung für das Gas- und Wasserfach (2021). Die österreichische Gasinfrastruktur. Factsheet.
- Waple, N. et al. (2023). Repurposing Gas Transmission Pipelines for Hydrogen. Artikel auf Hydrogen Techworld. 13. Dezember.
Bibliographie
- Bundesamt für Energie – BFE (2020). Energieperspektiven 2050+.
- Bundesamt für Energie – BFE (2024). Überblick über den Energieverbrauch der Schweiz im Jahr 2023. Auszug aus der Schweizerischen Gesamtenergiestatistik 2023. Juni.
- Fraunhofer Institute for Integrated Circuits IIS (2021). Gas Pipelines for Hydrogen? Interview mit Dr. Thomas Hüwener und Prof- Dr. Alexander Martin.
- Nemec, R. (2024). Hydrogen-Blend Pipelines: Fast-Tracking Innovations Leading Fossil Fuel Resurgence. Pipeline and Gas Journal. Vol. 251.
- Österreichische Vereinigung für das Gas- und Wasserfach (2021). Die österreichische Gasinfrastruktur. Factsheet.
- Waple, N. et al. (2023). Repurposing Gas Transmission Pipelines for Hydrogen. Artikel auf Hydrogen Techworld. 13. Dezember.
Zitiervorschlag: Meier, Boris; Baggenstos, René (2024). Warum es die Gasleitung auch in Zukunft braucht. Die Volkswirtschaft, 31. Oktober.