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Selbstüberschätzung verstärkt den Kater

Erinnern Sie sich noch an die Stimmungslage beim Jahreswechsel? Die internationale Presse blickte ziemlich düster auf das Jahr 2016: Eine schleppende Wirtschaftsentwicklung rund um den Globus, Spannungen in Osteuropa und im arabischen Raum, Terrorismusdrohungen sowie die unbewältigte Flüchtlingsproblematik verleiteten zu Pessimismus fürs neue Jahr.

Mitten in dieser Katerstimmung schreibt das «Journal of Economic Perspectives» über das Wesen des Optimismus: Viele Menschen schätzten ihre Fähigkeiten zur Beurteilung ihnen wichtiger Anliegen zu vertrauensvoll ein; die Rede ist von «Overconfidence» in die eigene Urteilskraft respektive Selbstüberschätzung.

Das Phänomen lässt sich etwa mit Laborexperimenten nachweisen, wenn 83 Prozent der Studenten, die nach der Sicherheit ihrer Fahrweise befragt werden, der Überzeugung sind, dass sie zur Gruppe der 30 Prozent besten Fahrer gehören. Ähnliche Schlüsse lassen sich aus zahlreichen Studien ziehen, welche das Phänomen bei ökonomischen Entscheidungen untersuchen. Die Analyse des Nutzungsverhaltens von Fitnesscenterbesuchern zeigt etwa: Einzeleintritte wären für viele günstiger als Abonnements. Trotzdem sind Fitnessabos beliebt. Offenbar überschätzen die Kunden häufig ihre Selbstkontrolle und verdrängen ihre Erfahrung bei der Überwindung des «inneren Schweinehundes».

Besonnenheit als Tugend


Dieses psychologische Verhalten ist von hoher ökonomischer Relevanz. Selbstüberschätzung beeinflusst das Verhalten von Konsumenten, Managern, Investoren und Anlegern. Schon John Maynard Keynes sprach im Zusammenhang mit dem Verhalten auf Finanzmärkten von «Animal Spirits», welche zu «spontanem Optimismus» verleiteten.

Und selbstverständlich sind auch politische Entscheidungsträger nicht von dieser Verführung verschont. So nutzt die Literatur diesen Erklärungsansatz auch für die Analyse geopolitischer Spannungen, wie etwa Kriegserklärungen, die trotz risikoreicher Ausgangslage deklariert werden. Vergleichbar sind auch Führungsgremien der Sozialpartner bei Entscheidungen über den Verlauf von Streiks nicht davor gefeit, die erwarteten Reaktionen der Gegenseite wegen systematischer Überheblichkeit falsch einzuschätzen.

Es stellt sich letztlich auch die Frage, inwiefern sich individuelle Fehleinschätzungen auch auf kollektives Verhalten in Gruppen oder Organisationen (Firmen, Märkte, Wähler) auswirken kann. In der Finanzmarkttheorie hat sich diesbezüglich schon seit Längerem das Bild des Herdenverhaltens etabliert.

Besonnenes und bewusstes Entscheiden ist in diesem Jahr besonders auch in der Schweiz gefragt. In Ergänzung der eingangs erwähnten internationalen Herausforderungen gibt es eine besonders knifflige helvetische Hausaufgabe: Mit der Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiative stehen die Ausländer- und Europapolitik auf dem Prüfstand. Im Rahmen der nahenden parlamentarischen Debatte und einer späteren Volksabstimmung wird dabei das Phänomen der Selbstüberschätzung zu bedenken sein. Auch bei Volksabstimmungen kann die Einschätzung des Kollektivs überzeichnet sein.

Zitiervorschlag: Eric Scheidegger (2016). Selbstüberschätzung verstärkt den Kater. Die Volkswirtschaft, 23. März.