Suche

Abo

Ein Marathon mit Endspurt

Die Verhandlungen über das Freihandelsabkommen mit Indien dauerten 16 Jahre. Am Schluss ging es dann aber plötzlich ganz schnell.
Schriftgrösse
100%

Die Efta-Staaten wollen in den kommenden 15 Jahren 100 Milliarden Dollar in Indien investieren. (Bild: Keystone)

Die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt. Dass es der Schweiz gelingen würde, das gemeinsam mit den anderen Mitgliedern der Europäischen Freihandelsassoziation (Efta) verhandelte Freihandelsabkommen mit Indien überhaupt abzuschliessen, daran glaubten zuletzt nur noch wenige. Schliesslich zogen sich die Verhandlungen seit ihrer Lancierung 2008 bereits ewig hin.

Schon Ende 2013 stand man einmal kurz vor dem Abschluss. Letztendlich gelang es doch nicht, die noch offenen Punkte vor den indischen Wahlen 2014 zu klären. Auch eine erneute Intensivierung der Gespräche in den Jahren 2016 und 2017 brachte keinen Durchbruch.

Licht am Ende des Tunnels

Doch nach 16 Jahre mit teils längeren Unterbrüchen kam die lang ersehnte Einigung: Das sogenannte Handels- und Wirtschaftspartnerschaftsabkommen (Tepa) mit Indien war nach einer intensiven Schlussphase der Verhandlungen mit vier weiteren Verhandlungsrunden (insgesamt waren es 21), vielen hochrangigen Gesprächen, unzähligen Videokonferenzen, Einsätzen zu später Stunde und am Wochenende und Kontakten auf allen Stufen bis wenige Tage vor Unterzeichnung unter Dach und Fach. Doch weshalb gerade jetzt?

Kurz gesagt: Der handelsfreundlichere Kurs der indischen Regierung war mitentscheidend. Dieser mündete bereits 2022 in den Abschluss eines Abkommens mit den Vereinigten Arabischen Emiraten und eines ersten Teilabkommens mit Australien. In dieser Zeit hat Indien auch Verhandlungen mit dem Vereinigten Königreich aufgenommen und die Verhandlungen mit der EU reaktiviert. Diese positive Stimmung führte dazu, dass sich schliesslich auch für die Efta eine Möglichkeit eröffnete, die Verhandlungen mit Indien fortzusetzen.

Der entscheidende Schub, der zum erfolgreichen Abschluss der Verhandlungen führte, erfolgte im Herbst 2022, als Bundesrat Guy Parmelin mit einer hochkarätigen Wirtschafts- und Wissenschaftsdelegation nach Indien reiste. Dabei konnte er mit seinem indischen Amtskollegen Piyush Goyal einen guten persönlichen Kontakt etablieren. Dank unzähligen weiteren Kontakten auf politischer Ebene durch Bundesrat Parmelin und Staatssekretärin Helene Budliger Artieda gelang es, Indien davon zu überzeugen, dass sich eine erneute Intensivierung der Verhandlungen mit der pragmatischen Efta lohnt und ein erfolgreicher Abschluss der Verhandlungen in kurzer Frist realistisch ist.

Ein günstiger Moment

All dies war nicht selbstverständlich. Schliesslich konkurrierte die Efta mit dem Vereinigten Königreich, der EU und Kanada um Zeit, Aufmerksamkeit und knappe Ressourcen des indischen Verhandlungsteams. Doch die Efta setzte sich letztlich – und zur Überraschung aller – durch. Als einziges Verhandlungsteam gelang es ihr, noch vor den indischen Wahlen am 10. März das Tepa zu unterzeichnen. Der Moment war günstig, denn die anstehenden Wahlen im Frühjahr 2024 machten es für die indische Regierung – und den indischen Handelsminister im Besonderen – ausgesprochen wichtig, konkrete Resultate zu zeigen und mindestens eines der angekündigten FHA abzuschliessen.

Doch warum war die Efta erfolgreicher als ihre Mitstreiter? Ein Grund ist der Startvorteil. Denn im Frühling 2023 ist die Efta nicht von null in die technischen Gespräche mit Indien gestartet. In der damals 15-jährigen Verhandlungsgeschichte haben die Parteien bereits diverse Kapitel finalisieren können. Entsprechend waren sich die Efta und Indien rasch einig, dass der Fokus auf den wichtigsten noch offenen Bereichen liegen sollte: dem Warenverkehr inklusive der Ursprungregeln, den Dienstleistungen und dem geistigen Eigentum. Erneut geöffnet wurde auch das Kapitel über Handel und nachhaltige Entwicklung, da der 2013 vereinbarte Text nicht mehr aktuell war. Ebenso neu geöffnet wurde das Kapitel über Handelserleichterungen.

Die insgesamt pragmatische Vorgehensweise lautete: Konzentration auf das Wesentliche und Machbare. Dies hatte zwar zur Folge, dass das Abkommen nicht in jedem Fall dem aktuellen «State of the Art» entspricht, weil beispielsweise auf die Aushandlung eines Kapitels über den elektronischen Handel verzichtet worden ist. Dafür hatte die Efta insbesondere gegenüber der EU, die 2022 in den Verhandlungen mit Indien wieder von null begonnen hatte, einen gewichtigen Vorsprung und konnte sich darauf konzentrieren, in den wichtigen offenen Bereichen ein möglichst gutes Verhandlungsresultat zu erreichen.

Umfassender Marktzugang für Waren

Und tatsächlich: Das Verhandlungsresultat kann sich sehen lassen. 94,7 Prozent des bestehenden Warenhandels[1] aus der Schweiz nach Indien werden bei Inkrafttreten des Abkommens von Zollerleichterungen profitieren – teilweise mit Übergangsfristen.

Ihrerseits gewährt die Schweiz Indien einen vertraglich gesicherten zollfreien Marktzugang für Industrieprodukte.[2] Die Zugeständnisse der Schweiz an indische Landwirtschaftsimporte orientieren sich an bereits bestehenden Freihandelsabkommen und liegen im Rahmen der Schweizer Agrarpolitik. Der Grenzschutz für sensible Produkte wie Fleisch, Milchprodukte, Getreide, Ölsaaten, Früchte und Gemüse innerhalb der Anbauperiode, Wein und Zucker wird nicht angetastet.

Das Abkommen bringt auch eine Reihe von Verbesserungen für den Handel mit Dienstleistungen. Beispiele sind die Anhebung des erlaubten Anteils ausländischen Kapitals im Finanz- und Versicherungssektor oder der erlaubte Aufenthalt von bis zu drei Monaten von Schweizer Maschineninstallateuren und Wartungspersonal in Indien. Ausserdem konnten Verbesserungen bei den Rechten für geistiges Eigentum erreicht werden, insbesondere zu Rechtssicherheit, Verfahren bei Patenten und beim Schutz der «Swissness». Dieser Schutz der Bezeichnung «Schweiz» und des Schweizer Kreuzes ist für viele Branchen wichtig, so etwa bei Uhren, Nahrungsmitteln oder Kosmetika. Der Zugang zu Medikamenten in Indien wird durch das Abkommen nicht eingeschränkt.

Ein Erfolg für die Efta ist auch, dass Indien zum ersten Mal ein umfassendes Kapitel mit rechtsverbindlichen Verpflichtungen zu Handel und nachhaltiger Entwicklung in eines seiner Freihandelsabkommen aufgenommen hat.

Indien soll von Investitionen profitieren

Um zu einem erfolgreichen Abschluss zu kommen, musste die indische Seite davon überzeugt werden, dass auch sie vom Abkommen profitieren kann, obwohl für Indien insbesondere im Warenverkehr nur wenig Mehrwert geschaffen werden konnte. So erwartet Indien etwa, dass die Investitionen aus den Efta-Staaten mit dem Abkommen ansteigen werden. Die beiden Parteien haben sich deshalb auf ein Kapitel über Investitionsförderung und Zusammenarbeit geeinigt. Dies war schliesslich der entscheidende Faktor, weshalb die Efta sich im «Wettkampf» um ein FHA mit Indien durchgesetzt hat.

Das gemeinsam formulierte Ziel sieht für die kommenden 15 Jahre zusätzliche Investitionen von 100 Milliarden Dollar aus den Efta-Staaten vor. Das soll helfen, eine Million Arbeitsplätze in Indien zu schaffen. Um dieses Ziel zu erreichen, haben sich die Efta-Staaten verpflichtet, Investitionen in Indien zu fördern. Indien wird sich seinerseits bemühen, für ein günstiges Investitionsklima zu sorgen, und verpflichtet sich zur Schaffung eines «Efta-Desks», um Firmen bei ihren Investitionsvorhaben entsprechend zu unterstützen.

Sollten diese gemeinsamen Ziele nicht erreicht werden und ist Indien der Ansicht, dass die Efta-Staaten ihre Verpflichtungen nicht erfüllt haben, hat Indien die Möglichkeit, die Zugeständnisse im Warenverkehr vorübergehend und verhältnismässig auszusetzen – allerdings frühestens 20 Jahre nach Inkrafttreten des Freihandelsabkommens.

Ein solches Kapitel ist ein Novum in einem Freihandelsabkommen und war notwendig, um die Verhandlungen abzuschliessen. Es wurde innerhalb von wenigen Wochen in der alles entscheidenden Schlussphase ausgehandelt. Dabei war ein Höchstmass an Innovationsgeist, Kreativität, Beharrlichkeit, Flexibilität und schliesslich auch Mut gefragt, um sich in dieses unbekannte Fahrwasser zu begeben.

Ein Meilenstein in der Aussenwirtschaftspolitik

Dennoch kann man zuversichtlich sein, dass das Handelsabkommen den bilateralen Wirtschaftsbeziehungen zwischen der Schweiz und Indien den nötigen Schub geben wird, diese ehrgeizigen Ziele zu erreichen. Schliesslich ist das Tepa ein umfassendes FHA, das die Interessen der Schweizer Wirtschaft abdeckt: Es bringt nicht nur verbesserten Marktzugang, sondern auch Rechtssicherheit für unsere wirtschaftlichen Beziehungen mit Indien – namentlich im Bereich des geistigen Eigentums oder bei den Dienstleistungen. Und es verschafft der Schweiz einen zumindest temporären Wettbewerbsvorteil gegenüber der EU, dem Vereinigten Königreich oder den USA.

Für die Schweiz ist der Abschluss dieses Abkommens ein Meilenstein in ihrer Aussenwirtschaftspolitik. Erreicht hat sie diesen Meilenstein, indem sie bereit war für innovative und mutige Lösungen und indem sich unzählige Akteure auf allen technischen und politischen Ebenen engagierten und hinter diese Verhandlungen stellten. Aber letztlich war es auch ein Verdienst aller beteiligten Unterhändlerinnen und Unterhändler, denen es gelang, eine persönliche Beziehung zu ihrem Gegenüber aufzubauen. Verhandeln ist letztlich auch ein «People’s Business».

  1. Gemessen am Warenwert 2018−2023, ohne Gold. []
  2. Seit Anfang 2024 erhebt die Schweiz keine Einfuhrzölle auf Industriegüter mehr – egal aus welchem Land diese stammen. Allerdings kann die Schweiz diese Zölle wieder anheben, wenn sie das möchte. Für Einfuhren aus Indien ist das nicht möglich. Sie bleiben wie im Abkommen vereinbart aufgehoben. []

Zitiervorschlag: Kienholz, Regula; Schlagenhof, Markus (2024). Ein Marathon mit Endspurt. Die Volkswirtschaft, 05. September.