Im Rahmen des obligatorischen Landdienstes während des Zweiten Weltkriegs werden im Sommer 1940 Winterthurer Schülerinnen bei der Heuernte in Kempthal eingesetzt. (Bild: Keystone)
Ernährung ist eines der grundlegendsten menschlichen Bedürfnisse.[1] Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass die Landwirtschaft zu einem der politischsten Bereiche geworden ist. Allerdings hat sich die Agrar- und Ernährungspolitik im Laufe der letzten rund 150 Jahre immer wieder signifikant verändert. Angepasst wurden nicht nur die Ziele, sondern auch die Massnahmen.
Insgesamt kann man diese Zeit in vier Perioden unterteilen: Von den 1870er/80er-Jahren bis zum Ersten Weltkrieg 1914 ging es in der schweizerischen Agrarpolitik darum, die globalisierte Nahrungsmittelproduktion zu festigen. Vom Ersten bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs 1945 wurde die Landwirtschaft zu einer «Sache des ganzen Volkes» gemacht und die Agrarpolitik aufgrund der Knappheiten in den beiden Kriegen zu einer Ernährungspolitik ausgeweitet. Nach dem Zweiten Weltkrieg bis in die 1980er-Jahre stand die Steigerung der Produktion und der Produktivität im Zentrum; und seit den 1990er-Jahren befinden wir uns in einer Reformperiode, in der der Agrarsektor umfassend rereguliert wird. Das heisst: Den Deregulierungen auf den Agrarmärkten steht die Errichtung von Auflagen im Umweltbereich gegenüber.
Bund fördert Spezialisierung und Handel
Bei der Gründung des Bundes 1848 dachte kaum jemand an eine Regulierung der Agrarproduktion durch die Behörden, wie das in der Zeit vor dem Bundesstaat lange üblich gewesen war. Die bäuerliche Bevölkerung sollte im liberalen Bundesstaat das produzieren, was auf den Märkten nachgefragt wurde. Konkret war das immer mehr Milch zur Herstellung von Hartkäse, der von den Mittelschichten in den stark wachsenden Städten in Europa und Übersee konsumiert wurde.
Die Ausweitung der Viehhaltung ab der Mitte des 19. Jahrhunderts ging auf Kosten des Anbaus von Brotgetreide, das man zunehmend aus Russland sowie Süd- und Nordamerika bezog. Möglich machte diese Globalisierung der Produktion und des Konsums von Nahrungsmitteln die thermo-industrielle Revolution, in der die Dampfmaschine entstand. Die nun mit fossilen Energieträgern angetriebenen Dampfschiffe und Dampfeisenbahnen machten es zum ersten Mal in der Geschichte möglich, Massengüter wie Getreide und Käse schnell und billig über weite Strecken zu transportieren.
Erst in den 1880er-Jahren begann der Bund mit dem Aufbau einer Agrarverwaltung und der Entwicklung einer Agrarpolitik. Damals tat er dies, um die globalisierte Arbeitsteilung im Ernährungsbereich zu stützen, nicht um sie rückgängig zu machen. Dazu förderte er beispielsweise die Aus- und Weiterbildung der bäuerlichen Bevölkerung und erliess sogenannte Erziehungszölle, welche ausgewählte inländische Produkte schützen sollten und es den Bauern ermöglichten, sich an die laufend sich verändernden internationalen Märkte anzupassen. Das bei der Gründung des Bundesstaats noch weitgehend «gelben» Ackerbau treibende Mittelland wurde bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs in eine «grüne» Landschaft verwandelt. Will heissen: Anstelle von Getreide wurde nun vor allem Gras für die Milchproduktion angebaut.
Erster Weltkrieg beendet Globalisierung
Diese Globalisierung der Landwirtschaft stiess spätestens in der zweiten Hälfte des Ersten Weltkriegs an ihre Grenzen: Wegen des Kriegs brach der Handel mit Getreide und anderen Nahrungsmitteln grösstenteils ein. Dies hatte 1917/18 eine Ernährungskrise zur Folge, in der insbesondere das Brot nicht nur teuer, sondern für die Arbeiterschaft und die Haushalte der oft ebenfalls schlecht entlöhnten städtischen Beamten auch knapp wurde. Deshalb verlangte die ehemals freihandelsorientierte Konsumentenschaft eine Reform der Agrarpolitik. Gefragt war nun eine Ausrichtung der Landwirtschaft auf die Bedürfnisse der inländischen Haushalte, die aufgrund der drastischen Einschränkung des internationalen Handels ihr Brot nicht mehr aus dem Ausland beziehen konnten.
Die bäuerliche Bevölkerung musste deshalb wieder lernen, Getreide, Gemüse und Kartoffeln anzubauen. Dazu wurden die Betriebe als «Bundeshof» konzipiert, die Landwirtschaft vergesellschaftet und nach dem Krieg in Form eines Service public organisiert. Für einzelne, für die Ernährung der Bevölkerung als unabdingbar eingestufte Grundnahrungsmittel wie Getreide oder Trinkmilch legte die Politik die Preise fest. Zudem erliessen die Behörden Abnahmegarantien und Ablieferungsverpflichtungen. Der mit der «neuen Agrar- und Ernährungspolitik» in der Zwischenkriegszeit angestrebte Ausbau des Gemüseanbaus und der Eierproduktion stärkte, wenn auch nicht explizit vorgesehen, die Stellung der Bäuerinnen auf den Höfen. Frauen und Kinder, die insbesondere in diesen Bereichen tätig waren, erbrachten jetzt nicht nur rund die Hälfte aller Arbeitsleistungen in der Landwirtschaft, sie trugen nun auch einen erheblichen Anteil zum Familieneinkommen bei. Stark ausgebaut wurde in der Zwischenkriegszeit auch der Anbau von Gemüse und Kartoffeln durch die Haushalte von Arbeitern und Angestellten in den städtischen Familiengärten.
Damit sich eine Ernährungskrise wie 1917/18 nicht wiederholte, versuchten die Behörden in der Zwischenkriegszeit mit einer «zielbewussten Produktionsleitung» jene Nahrungsmittel herzustellen, die zur Versorgung der Bevölkerung nötig waren. Dazu gehörten neben Getreide und Trinkmilch auch Kartoffeln, Gemüse und Eier. Gestärkt wurde diese Politik im Zweiten Weltkrieg, als der in der Zwischenkriegszeit rückläufige Fleischkonsum noch weiter abnahm und so die Voraussetzungen für einen zusätzlichen Ausbau des Ackerbaus schuf.
Nachkriegszeit: Gesteigerte Produktion und Produktivität
In eine ganz andere Richtung als bisher entwickelten sich der Konsum und in dessen Schlepptau auch die Produktion von Nahrungsmitteln nach dem Zweiten Weltkrieg. Gefragt waren jetzt wieder mehr Fleisch und neu vor allem auch verarbeitete Milchprodukte wie Käse, Quark und Joghurt. Das starke Bevölkerungswachstum und die steigende Kaufkraft verlangten nach einem massiven Ausbau der Tierhaltung. Dieser Ausbau erfolgte zum Teil auf Flächen, die wegen der nun mit fossiler Energie angetriebenen Traktoren nicht mehr zur Produktion von Futter für Arbeitstiere benötigt wurden.
Stark stieg auch der durch eine liberale Handelspolitik ermöglichte Import von Futtermitteln, welche zum Ausbau der Fleisch- und der Milchproduktion unabdingbar wurden. Ähnlich wichtig für den Ausbau der Produktion wurde der Einsatz von Kunstdünger und Pflanzenschutzmitteln, die es ermöglichten, makellose Früchte und Gemüse zu produzieren, wie sie das verarbeitende Gewerbe und der Handel verlangten.
Der Ausbau und die Umstellung der Produktion erforderten massive Investitionen, welche die landwirtschaftlichen Betriebe in der Nachkriegszeit zu wichtigen Kunden der nun aufblühenden Zuliefererindustrien werden liessen. Dazu gehörten etwa die Hersteller von Landmaschinen und Futtermittelfabrikanten. Diese Entwicklung wurde von der staatlichen Agrarpolitik ausgestaltet und gefördert. Damit leistete sie auch einen wichtigen Beitrag zur Steigerung der Arbeitsproduktivität, die in der Nachkriegszeit in der Landwirtschaft wesentlich stärker zunahm als in der Industrie. «Das heutige System der Agrarpolitik zwingt die Bauern zur höchstmöglichen Produktivität», stellte Henner Kleinewefers, Professor für Volkswirtschaft an der Universität Freiburg, 1972 fest.
Die Wachstumspolitik des Bundes stiess innerhalb der Bauernschaft sowohl auf Zustimmung wie auf Widerstand. Denn für die einen schuf sie Möglichkeiten zum Ausbau, gleichzeitig machte sie aber die meisten Höfe auch überflüssig. Die Wachstumspolitik führte zu Milchseen und ökologischen Degradierungen, wie sie zuvor nur in der Industrieproduktion aufgetreten waren. Das führte, zusammen mit dem internationalen Druck zur Liberalisierung des Handels mit Nahrungsmitteln, zu den agrarpolitischen Reformbestrebungen, die ab den 1990er-Jahren umgesetzt wurden.
Direktzahlungen als Lösung?
Die Reformen beinhalteten unter anderem einen Wechsel von Abnahmegarantien und Ablieferungsverpflichtungen zu Direktzahlungen und direkten Eingriffen in die Betriebsführung im Umweltbereich. Dieser Reformprozess lässt sich am besten als Reregulierung charakterisieren. Denn nebst der Deregulierung der Agrarmärkte kam es zu einem massiven Ausbau der Regulierungen im Umweltbereich. Eine Folge dieser Politik sind auf Milch- oder Fleischwirtschaft hoch spezialisierte, ökonomisch effiziente, monofunktionale Höfe. Gleichzeitig versuchte man mit an ökologische Auflagen gebundenen Direktzahlungen eine multifunktionale Landwirtschaft zu erzielen, die nicht nur Lebensmittel produziert, sondern auch Biodiversität schafft und die Landschaft pflegt.
Heute bewegt sich die Agrarpolitik also im Zielkonflikt von Nahrungsmittelproduktion und Umweltanliegen. Die Nahrungsmittelindustrie und der Detailhandel verlangen standardisierte, homogene Güter zu international konkurrenzfähigen Preisen, der Naturschutz hingegen blühende, an die lokalen Eigenheiten angepasste Landschaften. Dass die Agrarpolitik trotz der permanenten Veränderungen umstritten bleibt, ja in der Tendenz sogar immer umstrittener wird, liegt also buchstäblich in der Natur der Sache.
- Dieser Artikel basiert auf Büchern und Artikeln, die auf der Website des Archivs für Agrargeschichte zugänglich sind. []
Zitiervorschlag: Moser, Peter (2024). Die Agrarpolitik als Spiegel der Gesellschaft. Die Volkswirtschaft, 10. Dezember.