Nicole Cornu, Zentralsekretärin Bildungspolitik und Jugend, Schweizerischer Gewerkschaftsbund (SGB), Bern
Bei rund einem Viertel aller Lernenden in der Schweiz kommt es während der beruflichen Grundbildung zu einer Lehrvertragsauflösung. Auch derzeit erwägen gemäss einer aktuellen Studie von Workmed, einem Joint Venture der Psychiatrie Baselland und des Krankenversicherers Swica, 22 Prozent der Lernenden einen Lehrabbruch. Belastende Faktoren sind der Studie zufolge Überforderungsgefühle und Leistungsdruck, zu hohe Erwartungen, fehlende Wertschätzung, ungenügende Unterstützung im Betrieb, Konflikte und eine schlechte Arbeitsatmosphäre.
Eine Vertragsauflösung bedeutet nicht immer ein definitives Ende – viele nehmen eine neue Ausbildung in Angriff. Doch ein beträchtlicher Teil verlässt das Bildungssystem endgültig ohne Abschluss. Heute erreichen rund 90 Prozent einen Abschluss. Damit bleibt auch nach 20 Jahren das gemeinsame Ziel von Bund und Kantonen unerreicht, dass 95 Prozent aller Jugendlichen einen Abschluss auf Sekundarstufe II schaffen – das heisst: entweder eine Fach-, eine Berufs- oder eine gymnasiale Maturität oder einen Lehrabschluss.
Stress, Überforderung und gesundheitliche Probleme werden oft bagatellisiert.
Die Ursachen sind strukturell. Die Berufswahl mit 14 oder 15 Jahren erfolgt im internationalen Vergleich sehr früh. Und der Übergang von der Schule in die Arbeitswelt ist hart: weniger Ferien, lange Arbeitszeiten, Verzicht auf Freizeit und Erholung. Häufig sind Konflikte mit Berufsbildenden oder im Team ausschlaggebend für Lehrvertragsauflösungen.
Hinzu kommt ein hoher Produktivitätsdruck: Stress, Überforderung und gesundheitliche Probleme werden oft bagatellisiert. Die Daten zeigen denn auch, dass Lernende überdurchschnittlich unfallgefährdet sind. Besonders Berufe mit hohem Frauenanteil vereinen hohe physische und psychische Belastungen, beispielsweise in der Pflege oder im Coiffeurgewerbe. Hinzu kommen sexuelle Belästigungen, welche die Betroffenen aufgrund ihres jungen Alters noch verletzlicher machen. Der Grossteil der Belästigten schweigt oder bricht die Lehre ab.
Auch die Ausbildenden stehen unter Druck. Eine aktuelle Studie der Eidgenössischen Hochschule für Berufsbildung (EHB) zeigt: 76 Prozent der Berufsbildenden haben keine Zeitressourcen für ihre zentrale Aufgabe. Ein Paradox in einem Land, das stolz auf sein duales System ist.
Die Folgen sind gravierend: Wer ohne Berufsabschluss bleibt, trägt ein höheres Risiko für Arbeitslosigkeit, tiefe Löhne und Armut. Lehrabbrüche sind deshalb kein individuelles Versagen, sondern Ausdruck ungenügender Arbeits- und Ausbildungsbedingungen.
Der Schweizerische Gewerkschaftsbund (SGB) fordert deshalb eine bessere betriebliche Ausbildungsqualität mit genügend Ressourcen für die Begleitung der Lernenden. Gleichzeitig braucht es eine Stärkung der Berufsbildenden mit ausreichend Zeit, Weiterbildung sowie mehr Anerkennung. Ebenso unverzichtbar sind Verbesserungen beim Jugendarbeitsschutz: wirksame Lehraufsicht mit regelmässigen Betriebsbesuchen, Coachings der Lehrbetriebe, professionelle Schulsozialarbeit auch an Berufsfachschulen sowie mindestens acht Wochen Ferien für Lernende. Heute haben Lernende unter 20 Jahren nur Anspruch auf mindestens fünf Wochen.
Nur wenn die Berufslehre jugendgerecht, attraktiv und fair gestaltet ist, lassen sich Lehrabbrüche wirksam reduzieren und damit die dringend benötigten Fachkräfte von morgen sichern.
Zitiervorschlag: Cornu, Nicole (2025). Bessere Ausbildungsqualität verhindert Lehrabbrüche. Die Volkswirtschaft, 07. Oktober.