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Für eine Industriepolitik 2.0

Jede staatliche Regulierung hat industriepolitische Folgen. Deshalb sollte der Staat auch nicht vorgeben, keine Industriepolitik zu verfolgen, sondern vielmehr diese Aspekte in allen seinen Tätigkeiten bewusst einbauen. Eine solche «intelligente» Industriepolitik 2.0 gereicht ohne zusätzlichen Mitteleinsatz allen zum Vorteil.

In liberalen und marktorientierten Volkswirtschaften hat der Begriff «Industriepolitik» etwas Anrüchiges. Das Wort riecht nach Staatseingriffen, nach Planwirtschaft, nach verpönten Lenkungsinstrumenten wie Subventionen oder anderen Fördermitteln, die den Staatshaushalt belasten und die Wirtschaftsstruktur verzerren.

Das Versagen der alten Industriepolitik


Diese Einschätzung ist auch nicht erstaunlich angesichts der Erfahrungen, die viele Länder mit einer solchen Politik gemacht haben, sei es in Entwicklungsländern mit dem – meist erfolglosen oder nicht nachhaltigen – Aufbau von heimischen Industrien oder in entwickelten Ländern mit der Entwicklung von Hightech-Industrien.Und die Zweifel an dieser traditionellen Sicht der Industriepolitik sind durchaus berechtigt. Immer dort, wo sich der Staat anmasst, die Zukunft zu kennen, wird er fast immer daneben liegen. Vermutlich liegt der wichtigste Unterschied zwischen der Planwirtschaft und der Marktwirtschaft genau in der Überlegenheit der Marktwirtschaft als Entdeckungsmechanismus. Nur der Wettbewerb produziert eine Vielfalt an Lösungsmöglichkeiten, und nur der Markt zeigt zuverlässig, welche Lösungsmöglichkeit Erfolg und Bestand hat.

Von der Unmöglichkeit, keine Industriepolitik zu machen


Also soll der Staat keine Industriepolitik machen, ist die oft gehörte logische Forderung. Aber geht das? Ist es überhaupt möglich, keine Industriepolitik zu machen? Ich behaupte nein. Genausowenig, wie man nicht «nicht kommunizieren» kann, selbst wenn man schweigt, kann der Staat nicht «nicht Industriepolitik» machen.Praktisch jede staatliche Tätigkeit, jede Regulierung, wirkt sich auf die Industrien dieses Staates aus, im Guten wie im Schlechten. Meist sind diese Auswirkungen auch nicht für alle Industrien gleich stark; d.h. die staatlichen Aktivitäten beeinflussen immer auch die Zusammensetzung der Privatwirtschaft – die Industriestruktur. Bei unterschiedlichen Mehrwertsteuersätzen mag das offensichtlich und auch beabsichtigt sein. Aber bei vielen staatlichen Tätigkeiten steht dieser Aspekt nicht im Fokus, sondern vielmehr spezifische, meist innenpolitische Ziele. Dies ist im Bildungsbereich so, aber auch in der Regulierung des Gesundheitsmarktes, in der Raumplanung und was der staatlichen Regulierungsgebiete mehr sind. Aber alle diese Regulierungen haben Auswirkungen auf Unternehmen – gewollt oder ungewollt – und sind damit implizite Industriepolitik. So mag eine Revision der Krankenversicherungsverordnung primär die Gesundheitskosten im Visier und damit innenpolitische Ziele haben; in der Konsequenz ergeben sich aber Einflüsse auf die Schweizer Pharmaindustrie und die Forschung in der Schweiz. Ob es um Too big to fail im Finanzsektor, Corporate Governance bei kotierten Unternehmen oder um den Atomausstieg geht: Die daraus hervorgehenden Gesetze und Regulierungen werden grosse Auswirkungen auf die zukünftige Industriestruktur der Schweiz haben. Getreu dem «Gesetz der unbeabsichtigten Konsequenzen» werden viele Politiker dannzumal beteuern, dass sie diese Konsequenzen nie beabsichtigt hätten.

Bedarf nach einer neuen Industriepolitik


Die Konsequenz aus dieser Tatsache muss eine «neue» Industriepolitik sein. Einerseits sollte der Staat günstige Grundlagen legen für alle Industrien – und dies nicht durch spezifische Förderungen, sondern durch breite Investitionen in Bildung und Grundlagenforschung. Ein gutes Beispiel hierfür ist die Gründung der Eidgenössischen Technischen Hochschulen (ETH) im Jahre 1855. Die Hochschulfrage war damals eng an die Entwicklung des jungen Bundesstaates geknüpft. Das Eidgenössische Polytechnikum sollte das Wissen für den Aufbau einer zukünftigen nationalen Infrastruktur generieren. Zugleich sollte es ein konkurrenzloses Angebot machen, um die Professionalisierungs- und Karrierechancen der nationalen Elite zu verbessern. Damit hat die Schweiz bis in die heutige Zeit hinein Institutionen geschaffen, die Weltrang erreicht haben und Wissensgrundlage sowie Nachwuchslieferant für zahllose Unternehmen bildeten.Andererseits sollte sich der Staat bewusst sein, dass er in allem, was er tut, auch über die Industriestruktur und den aussenwirtschaftlichen Erfolg seiner Unternehmen mitbestimmt. Entsprechend benötigt die Schweiz einen Staat, der diese Wirkungen in seiner Tätigkeit berücksichtigt und bewusst einsetzt. Damit ist die Politik immer noch frei zu entscheiden, was sie will, aber im Minimum wären die Konsequenzen klarer. Es wäre klar, dass man das Fell des Bären nicht innenpolitisch waschen kann, ohne dass es aussenwirtschaftlich nass wird. Diese «neue» Industriepolitik könnte wie ein guter Judoka den bereits vorhandenen Schwung einer neuen Regulierung so umlenken, dass er auch aussenwirtschaftlich zum Vorteil gereicht oder zumindest Schaden vermieden wird. Wie bei einer Umweltverträglichkeitsprüfung oder Technikfolgenabschätzung sollte in einer kleinen offenen Volkswirtschaft jede staatliche Regulierung auf ihre aussenwirtschaftlichen Konsequenzen geprüft werden. Ein Medikament kommt nicht auf den Markt, wenn es zuviele Nebenwirkungen hat. Genauso dürften Regulierungen nicht in Kraft treten, wenn sie aussenwirtschaftlich zuviel Schaden anrichten. Im immer härter werdenden globalen Standortwettbewerb können wir es uns nicht leisten, mit innenpolitisch motivierten Regulierungen unsere internationale Wettbewerbsfähigkeit zu ruinieren.Dieser Gedanke ist ja nicht neu: Das ehemalige Bundesamt für Aussenwirtschaft und das Bundesamt für Industrie, Gewerbe und Arbeit wurden genau aus der Erkenntnis heraus zum heutigen Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) verschmolzen, dass Innenpolitik immer auch Aussenwirtschaftspolitik ist und diese deshalb integriert werden müssen. Analog müsste die Bundesverwaltung integriert denken und keine Silos kennen. Heute denkt das EDI in der Regulierung des Gesundheitsmarktes primär an das Inland, und das EVD versucht parallel den Industriestandort und die Exporte zu fördern. Die einfachste und kostengünstigste Förderung würde in der Integration dieser beiden Perspektiven liegen. Eine solche wohlverstandene Industriepolitik ist gewissermassen automatisch eine Wachstumspolitik, da sie die vorhandenen Standortvorteile unterstützt und stärkt. Es ist eine Industriepolitik, die nicht vorgibt zu wissen, was in Zukunft Erfolg hat, die aber die Grundlagen und den Nährboden schafft, damit neue und innovative Lösungen am Markt entstehen können und diese durch ihre Regulierungen fördert und nicht zerstört. Das wäre eine Industriepolitik 2.0.

Kasten 1: Fallbeispiel für «alte» Industriepolitik

Fallbeispiel für «alte» Industriepolitik


Ein Beispiel für einen gezielten Aufbau einer Industrie ist die gegenwärtige Diskussion um das Thema Cleantech, z.B. die Photovoltaikindustrie, welche im Zuge der Förderung erneuerbarer Energiequellen weltweit stark gewachsen ist. Dabei soll durch die Förderung der Forschung, Produktion und/oder Nachfrage in vielen Ländern einerseits die Energieversorgung in Zukunft aus erneuerbaren Quelle gedeckt werden und anderseits eine heimische Cleantech-Industrie – respektive Photovoltaikindustrie – aufgebaut werden. Deutschland hat beispielsweise gleich alle Ebenen parallel gefördert. Sehr wohl konnte mit Hilfe der verschiedenen Förderungsmassnahmen der Anteil erneuerbarer Energiequellen sowie der Solarenergie an der Energieversorgung gesteigert werden. Allerdings wurden damit auch Überkapazitäten in der Produktion von Photovoltaikmodulen und -zellen weltweit geschaffen; Schätzungen gehen von einer doppelt so hohen Produktion wie Nachfrage aus. Wegen dieser Überkapazität in der Produktion findet gerade in Deutschland eine mit Konkursen verschiedener Unternehmen einhergehende Konsolidierung in der Photovoltaikindustrie statt, welche mit den tiefen Preisen für Module und Zellen der chinesischen Anbieter nicht mithalten können. Im Jahre 2008 stammten im deutschen Photovoltaikmarkt noch fast 60% aus eigener Fertigung und nur gerade 21% aus chinesischer Poduktion. Aktuell werden noch 15% in heimischen Werken produziert, und über 60% der Produktion stammt aus China. Der Versuch, eine eigene heimische Photovoltaikindustrie aufzubauen, ist somit in Deutschland trotz milliardenschwerer Förderung gescheitert.

Quelle: Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie (2012): Bericht des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie zur Lage der deutschen Photovoltaikindustrie.

Zitiervorschlag: Stephan Mumenthaler (2012). Für eine Industriepolitik 2.0. Die Volkswirtschaft, 01. Juli.