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Eine Reform der Ergänzungsleistungen allein reicht nicht

Aus Sicht der kantonalen Sozialdirektoren soll das Kostenwachstum bei den Ergänzungsleistungen eingedämmt werden, ohne aber das Leistungsniveau zu senken. Dafür sind auch Anpassungen bei der 2. Säule und der Pflegefinanzierung nötig.

Eine Reform der Ergänzungsleistungen allein reicht nicht

Ein Grossteil der Ergänzungsleistungen fällt bei Heimeintritten im Alter an. Auch eine obligatorische Pflegeversicherung steht zur Diskussion. (Bild: Keystone)

Die Kosten von Bund und Kantonen für Ergänzungsleistungen (EL) haben seit der letzten Revision 2008 stark zugenommen. Einzelne Jahre verzeichneten sogar ein zweistelliges Wachstum. Das Ergänzungsleistungsgesetz wurde damals, parallel zur Neugestaltung des Finanzausgleichs und der Aufgabenteilung (NFA), revidiert. Heute gibt es mehr Menschen, die im Alter oder bei Invalidität auf Ergänzungsleistungen angewiesen sind, um über die Runden zu kommen. Die Leistungen der 1. Säule (AHV) und der Invalidenversicherung (IV) reichen oft nicht mehr aus, weshalb die Existenzsicherung über die EL sichergestellt werden muss. Die Zahlen verdeutlichen diese Situation: Die Gesamtausgaben bei den EL sind in den letzten 12 Jahren um 50 Prozent auf jährlich rund 4,7 Milliarden Franken angewachsen. 12 Prozent der AHV-Rentner und über 44 Prozent der IV-Bezüger sind auf solche Ergänzungsleistungen angewiesen. Seit der NFA tragen die Kantone zwei Drittel dieser Kosten.
Eine Studie des Bundesamts für Sozialversicherungen (BSV) zur Kostenentwicklung bei den EL zeigt, dass diese bis 2020 auf jährlich rund 5,5 Milliarden Franken anwachsen würden, wenn sich die Rahmenbedingungen nicht verändern.

Verschiebung der Zuständigkeiten


Für den zunehmenden Kostendruck seit 2008 sind mehrere Faktoren verantwortlich. Eine Tatsache ist, dass die Bevölkerung wächst. Zudem werden wir immer älter und die Pflege immer teurer. Dies führt dazu, dass immer mehr Pflegebedürftige ihr Vermögen aufbrauchen und auf EL angewiesen sind.
Auch Leistungskürzungen bei andern Sozialwerken und neue Aufgaben sind ein Grund für die steigenden Kosten bei den Ergänzungsleistungen: Seit der NFA beteiligen sich die Kantone auch an den Kosten der individuellen IV-Leistungen. Mit der 5. IV-Revision und der IV-Revision 6a wurde das System «Eingliederung vor Rente» eingeführt und verstärkt. Damit wurden auch die Anspruchsbedingungen für die Versicherungsleistungen präzisiert. Von den Neuerungen betroffen sind vor allem Menschen mit gesundheitlichen Einschränkungen, die keinen offensichtlichen Anspruch auf eine Invalidenrente haben. Da diesen Leuten keine IV-Rente mehr gewährt wird, fallen die Kosten stattdessen bei der Sozialhilfe an. Viele Personen, denen infolge dieser IV-Revision die Leistungen gekürzt wurden und die deshalb nur noch eine Teilrente erhalten, sind seither auf Ergänzungsleistungen angewiesen.
Für die Kantone wächst zudem die Belastung im Pflegebereich: Bei der Revision des Krankenversicherungsgesetzes 2010 hat man sich gegen ein «Versicherungsmodell» und für ein «staatliches Modell» entschieden. Das hat zu einer immer komplexeren Finanzierung bei der Pflege geführt. Im stationären Bereich sind die steigenden Ausgaben für EL primär auf die NFA zurückzuführen. Die dynamische Entwicklung im Pflegebereich wurde damals unterschätzt.

Bedarfsleistung weiterführen


Diese Kostenzunahme bei den EL zur AHV und IV ist besorgniserregend und muss gedämpft werden. Darüber besteht weitherum Einigkeit. Eine Reform der EL ist unabdingbar, damit die Kantone die existenzsichernde Leistung weiterhin erbringen können. Diese Kernleistung ist zentral und darf nicht zur Disposition stehen. Zudem ist ein Mix von verschiedenen Leistungssystemen zu vermeiden: Wenn jemand EL bezieht, muss ihm ein existenzsicherndes Leistungsniveau zugesichert werden, ohne dass er auf zusätzliche Leistungen, etwa von der Sozialhilfe, angewiesen ist.
Die EL sind ein wichtiges und gut funktionierendes Instrument. Wichtig ist, dass die EL als Bedarfsleistung weitergeführt werden müssen und es dahin gehend keinen Umbau braucht. Hingegen gibt es einigen Anpassungsbedarf bei diversen anderen Elementen. Um das Niveau der EL zu erhalten und um der Kostenentwicklung entgegenzuwirken, muss man dort handeln, wo es möglich ist.
Das vom Bundesrat Ende 2015 in die Vernehmlassung geschickte Massnahmenpaket trägt aus der Sicht der Konferenz der kantonalen Sozialdirektorinnen und Sozialdirektoren (SODK) diesen Umständen Rechnung. Mit dem Abbau von Schwelleneffekten und Fehlanreizen sowie der verbesserten Vorsorgefähigkeit werden wichtige Elemente der EL optimiert.

Hohe Vermögensfreibeträge als Kostentreiber


Eine der wichtigsten Revisionsmassnahmen in der Pflegefinanzierung war insbesondere die Anhebung der Vermögensfreibeträge im Jahr 2008. Diese hat zu einer Ausdehnung der Anspruchsberechtigten und zu einem Vermögensschutz bei den Erben geführt. Das hat massgeblich zum Anstieg der Kosten bei den EL beigetragen. Hier ist eine Korrektur nach unten notwendig. Die SODK spricht sich auch gegen eine konsequente Anrechnung von hypothetischen Erwerbseinkommen, wie etwa die zugeschriebene Resterwerbstätigkeit bei der IV, aus. Ein Teil der betroffenen Personen wäre dann nämlich neben der EL auch auf Sozialhilfe angewiesen. Um negative Erwerbsanreize zu verhindern bzw. um die Eingliederung bei der IV in den Arbeitsmarkt zu fördern, sind aus unserer Sicht andere Möglichkeiten zu prüfen. Sowohl bei den Vermögensfreibeträgen als auch bei der Einkommensanrechnung ist ein guter Ausgleich nötig.
Weiter ist für die SODK wichtig, dass die Referenzprämie bei der Krankenkassenversicherung gesenkt und eine Entflechtung der EL und der individuellen Prämienverbilligung (IPV) angegangen wird. Das Ziel muss sein, dass die Kantone mit der Festlegung der Prämien und Prämienverbilligungen eine stärkere sozialpolitische Steuerfunktion haben.

Obligatorische Pflegeversicherung prüfenswert


Zwei wichtige Massnahmen mit direktem Bezug zu den Ergänzungsleistungen befinden sich in anderen Versicherungszweigen: die 2. Säule und die Pflegefinanzierung. Bei der 2. Säule ist die SODK klar der Meinung, dass deren Vorsorgefähigkeit erhöht werden muss. Dafür muss der Versichertenkreis ausgedehnt und müssen Fehlanreize für den Bezug des Vorsorgekapitals beseitigt werden.
Der weitaus grösste Teil der Ergänzungsleistungen wird beim Eintritt oder während des Aufenthalts in einem Alters- oder Pflegeheim ausgelöst. Die finanziellen Auswirkungen seit der Einführung der Pflegefinanzierung sind für viele Kantone und die Gemeinden, die oft mitfinanzieren, gross und nur schwer zu stemmen. Die SODK plädiert deshalb dafür, die individuelle Vorsorge für Pflegebedürftigkeit zu stärken. Über die Einführung einer obligatorischen Pflegeversicherung muss man mit Bestimmtheit sprechen. Aus sozialpolitischer Sicht ist es in jedem Fall das Ziel, älteren Menschen ein bedarfsgerechtes, selbstbestimmtes und würdiges Leben zu tragbaren Kosten zu ermöglichen. Die Ergänzungsleistungen tragen hierzu ihren Teil bei.

Kostenwachstum bremsen


Die gesellschaftliche Entwicklung überträgt der öffentlichen Hand immer mehr Aufgaben und höhere Belastungen. Was noch vor Jahrzehnten an freiwilligen Leistungen innerhalb der Familie erbracht worden ist, ist heute oft eine öffentliche Aufgabe. Der Trend wird sich fortsetzen. Aufenthalte in Pflegeheimen oder in Institutionen für Menschen mit Behinderungen sind heute Normalität. Diese Leistungen sind zwar mehrheitlich erwünscht, sie sind aber nicht gratis zu haben.
Angesichts der finanziellen Auswirkungen und der verschiedenen Interessenlagen dürfte es jedoch nicht einfach sein, in Kürze zu einer Lösung zu kommen. Anstatt nur auf die grossen Würfe zu vertrauen, sollte man deshalb parallel dazu das tun, was sich immer lohnt: im Kleinen das verändern, was möglich ist, auch wenn die Probleme damit nicht auf einen Schlag gelöst werden. Das heisst, dass man nicht meinen darf, dass der dargestellte Kostendruck einzig mit einer Reform des ELG aufgefangen werden kann.
Die SODK unterstützt das Vorhaben des Bundesrates, der das wichtige sozialpolitische Instrument der EL mit einem breiten Strauss von Massnahmen auf eine finanziell konsolidierte Basis stellen und gleichzeitig das Kostenwachstum dämpfen möchte. Die Kantone sind sich ihrer Aufgabe bewusst. Sie werden ihren Anteil am System der sozialen Sicherheit übernehmen und mitfinanzieren. Es ist die Pflicht aller involvierten Akteure, einen angemessenen Teil daran zu leisten. Ein gut funktionierendes System der sozialen Sicherheit trägt weit mehr bei, als Risiken zu minimieren und Betroffene in Notsituationen zu unterstützen. Es fördert ganz allgemein den Wohlstand einer Gesellschaft und hat eine starke Ausgleichswirkung.

Zitiervorschlag: Peter Gomm (2016). Eine Reform der Ergänzungsleistungen allein reicht nicht. Die Volkswirtschaft, 23. März.