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Gleiche Chancen für Alt und Jung

Gleiche Chancen für Alt und Jung

Ältere Mitarbeitende sind weniger leistungsfähig und unflexibel – so lautet das verbreitete Vorurteil. Tatsächlich aber sind ältere Mitarbeitende durch ihre Erfahrung und ihr Wissen eine wichtige Stütze im Unternehmen und werden angesichts der demografischen Entwicklung an Wert gewinnen. ABB Schweiz setzt diesbezüglich in ihrem Projekt «Generation 50 plus» ein Zeichen: Um weiterhin als attraktive Arbeitgeberin zu gelten, wird von der Anstellung bis zum Pensionsalter Chancengleichheit zwischen Jung und Alt gewahrt.

Mit welchem Alter schwinden die Einsatzbereitschaft und die Leistungsfähigkeit eines Menschen im beruflichen Alltag? Eine Frage, auf die es keine allgemeingültigen Antworten gibt. Die einen stehen noch mit 60 Jahren voll im Saft und fangen Neues an, andere haben schon mit 40 geistig abgeschaltet und zeigen nur noch wenig Eigeninitiative.  Gerade ältere Mitarbeitende werden im Unternehmen an Wert und Wertschätzung gewinnen. Zum einen aus demografischen Gründen: In den kommenden Jahren wird es zu einer Verschiebung der Alterstruktur kommen. Das Durchschnittsalter der Bevölkerung wird aufgrund der höheren Lebenserwartung steigen. Gleichzeitig treten wegen der tiefen Geburtenrate immer weniger junge Menschen in das Arbeitsleben ein. So wird der Altersquotient – das Verhältnis zwischen den Bevölkerungsanteilen der über 65-Jährigen und der Personen im Erwerbsalter (20-65 Jahre) – bis im Jahr 2049 doppelt so hoch liegen wie 1995. Ältere Mitarbeitende verfügen über jahrelange Erfahrung, umfangreiches Know-how und stabile Beziehungen zu Kunden und Lieferanten. Dieses wertvolle Potenzial wird vielfach nicht optimal genutzt, weil mentale Barrieren im Zusammenhang mit den Fähigkeiten von älteren Mitarbeitenden bei den Vorgesetzten und bei den Mitarbeitenden selber stark verankert sind.  Damit beide umdenken, braucht es Impulse und eine Unternehmenskultur, die auch älteren Mitarbeitenden Chancen zur Entwicklung bieten. Für ein Technologieunternehmen wie ABB, für das Wissen, Erfahrung und Innovationskraft seiner Mitarbeitenden überlebenswichtig sind, ist es entscheidend, dieses Potenzial auszuschöpfen.

Projekt «Generation 50 plus»


Vor diesem Hintergrund haben wir das Arbeitspapier «Generation 50 plus» formuliert. Es basiert auf der Personalpolitik von ABB Schweiz und soll einen breiten Dialog anstossen sowie das Bewusstsein für die wirtschaftliche Bedeutung und die Chancen älterer Mitarbeitender schärfen. Es geht dabei unter anderem darum, besonders wichtige Rahmenbedingungen aufzuzeigen, damit Mitarbeitende sich im Unternehmen wohl fühlen und entwickeln können. Es gilt, die bereits im Unternehmen vorhandenen, etablierten Instrumente und Modelle zu nutzen, um diese Rahmenbedingungen positiv zu beeinflussen. Unser Hauptziel ist klar: Wir wollen eine attraktive Arbeitgeberin sein und bleiben. Die Jüngeren sollen erkennen, dass es sich lohnt, bei ABB Schweiz alt zu werden und bis zum Pensionsalter vollen Einsatz zu bringen. Und für die Älteren gilt es, ein Arbeitsklima zu schaffen, das dazu beiträgt, dass sie nicht zu früh – vielleicht unbewusst – gedanklich aussteigen und die Energie, den Einsatz und die Risikobereitschaft reduzieren.

Chancengleichheit im Unternehmen


Diese Attraktivität kann nur mit Chancengleichheit bis zur Pensionierung erreicht werden. Hier sind wir in einer komfortablen Situation: Aufgrund der altersunabhängigen Arbeitsplatzbewertung haben bei ABB Schweiz Jüngere und Ältere bereits bei der Einstellung die gleichen Chancen. Der Lohn wird nach Funktion und Leistung errechnet und nicht nach Anzahl Dienstjahren. Somit fällt das oft angeführte Argument weg, dass ältere Mitarbeitende teurer seien.  Bei der Personalvorsorge sind die Beiträge von älteren Mitarbeitenden nur unwesentlich höher als diejenigen der jüngeren. Es gibt somit keine objektiven Kostengründe, die gegen eine Anstellung sprechen. Im Gegenteil – wir haben in den letzten drei Jahren über 20 Personen im Alter über 55 angestellt.  Es ist jedoch nicht sinnvoll, neue Stellen ausschliesslich mit älteren Bewerbern zu besetzen. Beim Einstellungsentscheid achtet ABB Schweiz auf eine altersmässig gute Durchmischung der Teams. Jedes Team hat eine eigene Dynamik, die es zu berücksichtigen gilt. In einem Fall ist ein Hochschulabsolvent, der von der Universität neue Denkansätze und Impulse mitbringt, vielleicht nützlicher. In einem anderen Fall geben die langjährigen Erfahrungen, das Fachwissen und die Ruhe eines Älteren, die oftmals stabilisierend auf ein Team wirken, den Ausschlag.

Arbeitsmarktfähigkeit erhalten


Es darf ebenfalls nicht sein, dass sich die Mitarbeitenden – unabhängig von ihrem Alter – auf ihrem erreichten Wissensstand ausruhen. Kontinuierliches Weiterbilden während des gesamten Erwerbslebens ist Teil unserer Unternehmensphilosophie – und dies nicht primär in internen oder externen Kursen, sondern vor allem während der täglichen Arbeit. Auch ältere Mitarbeitende sollten immer wieder die Chance erhalten, neue herausfordernde Aufgaben zu übernehmen, damit sie sich technisch, fachlich und persönlich weiterentwickeln.  Einem Vorurteil begegnen Ältere immer wieder: Dass sie sich zu wenig schnell an Veränderungen anpassen und nicht mehr bereit sind, Neues dazuzulernen. Aber gerade hier muss jeder Mitarbeitende seine Eigenverantwortung wahrnehmen – einerseits indem er sich aktiv um seine persönliche und berufliche Weiterentwicklung bemüht, andererseits indem er vom Arbeitgeber die entsprechende Unterstützung einfordert. Dies trägt entscheidend dazu bei, dass sich auch Mitarbeitende im fortgeschrittenen Alter ihre Arbeitsmarktfähigkeit bis zur Pensionierung erhalten.

Individuelle Arbeitszeit- und Pensionsmodelle


Natürlich sind mit zunehmendem Alter die Ressourcen nicht unbeschränkt. Es ist uns ein Anliegen, das Arbeitsumfeld so zu gestalten, dass ältere Mitarbeitende ihre Tätigkeit optimal ausführen können. Unter Umständen heisst dies, dass jemand innerhalb des Unternehmens von einer körperlich anspruchsvollen Tätigkeit an einen Platz versetzt wird, der körperlich weniger anspruchsvoll ist. Auch gewinnt das Thema Work-Life-Balance immer mehr an Bedeutung. Eine wichtige Voraussetzung für die psychische und physische Gesundheit ist das Gleichgewicht zwischen einer anspruchsvollen beruflichen Belastung und der Zeit für sich selbst, die Familie und das soziale Umfeld.  ABB Schweiz bietet abgestimmt auf die betrieblichen Notwendigkeiten und die persönlichen Bedürfnisse eine freie Gestaltung der Arbeitszeit und fördert individuelle Arbeitszeitmodelle. So ist eine stufenweise Pensionierung möglich, bei der die Mitarbeitenden beispielsweise 60% im Betrieb bleiben und 40% der Pension beziehen. Frühpensionierungen sind ebenfalls möglich, werden jedoch zwischen 57 und 62 selten gewünscht, da sie versicherungstechnisch neutral erfolgen. Deutlich attraktiver ist der flexible Rücktritt ab dem 62. Altersjahr, bei dem die Mitarbeitenden bis 65 zusätzlich zum Pensionskassenanspruch eine Überbrückungsrente erhalten.  Wir machen jedoch die Erfahrung, dass viele Mitarbeitende grundsätzlich daran interessiert sind, bis zur Pension zu arbeiten. Diese Tendenz hat in den letzten Jahren zugenommen. Das ist auch gut so, denn für das Unternehmen bedeuten frühzeitige Pensionierungen oft auch ein Brain Drain, bei dem wertvolles Wissen verloren geht.

Wertvolles Wissen weitergeben


Um notfalls auf dieses Wissen zurückgreifen zu können, ist bei ABB Schweiz im Einklang mit der AHV eine Weiterarbeit auch nach dem Pensionsalter bis höchstens 70 Jahre möglich. Allerdings wird diese Möglichkeit sehr selten genutzt. Bei Bedarf fragen wir Pensionierte für temporäre Einsätze an, sei es, weil sie eine Anlage oder ein Gebiet besonders gut kennen, oder weil der Kunde dies wünscht.  Dass das Wissen und die Erfahrung der älteren Generation gefragt sind, zeigt auch der Erfolg der Beratungsfirma Consenec AG auf. Bei ABB Schweiz beginnen alle Mitglieder des oberen Kaders automatisch mit ihrem 60. Altersjahr eine Beraterkarriere in der Consenec AG und übernehmen inner- und ausserhalb der eigenen Firma Projekte auf Auftragsbasis. Ziel ist es, jüngeren Managern früher eine Aufstiegsmöglichkeit zu bieten und gleichzeitig das Wissen der älteren ehemaligen Führungskräfte weiter gewinnbringend zu nutzen. Zudem erlaubt das Modell einen harmonischen Übergang in die Pension. Für beide Seiten bereichernd ist auch das Mentoring, bei dem erfahrene Mitarbeitende ihr Wissen mit jüngeren Kollegen teilen und ihnen Zugang zu einem über Jahre gewachsenen Netzwerk ermöglichen.

Wertschätzung ist wichtig


Dieser Austausch zwischen den Generationen ist unseres Erachtens sehr wichtig. Nicht nur, weil er dem Unternehmen Mehrwert bringt, sondern auch, weil er den Älteren grosse Wertschätzung beweist. Deren Know-how ist wertvoll und trägt einen Teil zum Erfolg des Geschäftsgangs bei. Wertschätzung motiviert zu mehr Einsatz und Leistungsbereitschaft. Eine der letzten Mitarbeiterumfragen zeigte diesbezüglich ein erstaunliches Ergebnis auf: Es waren die jüngeren Mitarbeitenden, die darauf hinwiesen, dass ihre älteren Kollegen im Betrieb nicht genügend Wertschätzung erhielten. Für die Älteren selbst war dies jedoch offenbar kein Thema. Weshalb? Hatten sie sich daran gewöhnt, dass Erfahrung in einer von Jungendwahn geprägten Gesellschaft nicht mehr gefragt ist? Hoffentlich nicht. Derzeit ist ein Umdenken in der Gesellschaft diesbezüglich zu beobachten. Dieser Bewusstseinswandel wird jedoch sowohl für die Arbeitgeber wie für die Mitarbeitenden gleichermassen ein langjähriger Prozess sein. Er darf nicht erst bei den 60-Jährigen anfangen, sondern muss bereits bei den 45- bis 50-Jährigen einsetzen. Nicht zuletzt zeigt ABB Schweiz auch in Führungsschulungen den Vorteil von altersmässig durchmischten Teams auf. Wenn als Folge davon Bewerbungsunterlagen älterer Mitarbeiter nicht mehr automatisch und unbesehen auf den Stapel «Absagen» gelegt werden, ist schon vieles erreicht.

Zitiervorschlag: Renato Merz (2006). Gleiche Chancen für Alt und Jung. Die Volkswirtschaft, 01. April.