Vertrauen ist wichtig, kann aber nicht von oben verordnet werden. (Bild: Keystone)
Wenn ich Dir vertraue, mache ich mich verletzlich, da ich Dir ein Gut anvertraue und davon ausgehe, dass Du dieses Gut meinen Erwartungen gemäss behandelst. Denn dieses Gut ist wertvoll für mich, es könnte sich etwa um ein wichtiges Geheimnis handeln, um ein Projekt oder um einen Gegenstand, an dem ich hänge. Ich überwache nicht, wie Du mit dem Gut umgehst. Ich gewähre Dir auf diese Weise Freiräume und definiere keine Regeln. Im Vertrauen lasse ich los, ich räume einen Ermessensspielraum ein, den Du so oder anders ausfüllen kannst.
Als Vertrauender verzichte ich auf Kontrolle, ich will keine absolute Sicherheit – genau das ist es, was mich verletzlich macht. Vertraue ich Dir nicht, werde ich mein Geheimnis nicht mit Dir teilen, übergebe Dir nicht das Projekt, überlasse Dir nicht den wertvollen Gegenstand. Oder ich tue es voller Zweifel und versuche, den Prozess zu kontrollieren.
Vertrauensketten in Gesellschaften
Vertrauen ist ein Anerkennungsverhältnis: Vertraue ich Dir, erkenne ich Dich als vertrauenswürdig an. Ich muss das nicht tun, aber wenn doch, mache ich es, weil ich Dich kenne und Du mir vertraut bist oder weil ich jemanden kenne, dem ich vertraue, der wiederum Dich kennt und dem Du vertraut bist. Vertrauen kann sich über Personen hinweg übertragen, wenn die einzelnen Glieder der Kette einander vertrauen – so entstehen Vertrauensketten. In unübersichtlichen Gesellschaften kann das sehr wichtig sein. Auch das bestimmt die Verletzlichkeit des Vertrauens, wir haben die Kette nie ganz im Blick. Wann hat das zweite Glied der Kette das dritte Glied der Kette zuletzt gesehen, wann das vierte das fünfte?
Als Anerkennungsverhältnis verändert Vertrauen eine Beziehung. Spüre ich das Vertrauen eines anderen, kann das ein Anreiz für mich sein, das Vertrauen nicht zu enttäuschen, ein Anreiz, der erst mit dem Vertrauen entsteht. So schafft Vertrauen die Gründe, die es rechtfertigen, diese Gründe sind nicht immer schon da. Deswegen ist es eine Ressource, die im Gebrauch wächst und sich nicht verbraucht. Wer anderen vertraut, motiviert die Bereitschaft, das geschenkte Vertrauen nicht zu enttäuschen, die wiederum Vertrauen schafft – ein produktiver Zirkel!
Misstrauen kann Vertrauen erzeugen
Oft sagen wir: Wir müssen anderen oder einer Institution vertrauen, aber das ist nicht ganz korrekt. Nur weil es einen Bedarf an Vertrauen gibt, bedeutet es nicht, dass man automatisch vertraut. Ich bin nicht mit einer Vertrauensfähigkeit ausgestattet wie mit einem Seh- oder Geruchssinn. Vertrauen muss man sich verdienen, man kann es verlieren und muss es dann neu gewinnen.
In politischen Zusammenhängen ist die Frage, wie hoch oder niedrig das Vertrauen in die Politik ist, sicherlich wichtig, aber sie muss richtig verstanden werden.[1] Wofür steht das gemessene Vertrauen oder Misstrauen? Für die Vertrauensbildung dürfte das wichtig sein, was man Unterschiedsgefühl nennen kann. Wird meine Stimme politisch gehört? In diesem Sinne kann sogar Misstrauen auf paradoxe Weise Vertrauen in das politische System erzeugen. Bewirkt es etwas, nimmt man es ernst? Man könnte von einem produktiven Misstrauen sprechen, das auf einem Vertrauen in das politische System beruht.
Wird Politik dagegen als schicksalhaft oder als von Sachzwängen dominiert wahrgenommen, kann sich ein echtes politisches Vertrauen kaum aufbauen. Sätze wie «Die machen eh, was sie wollen» oder «Die sind nicht wirklich frei in ihren Entscheidungen» verraten dann eher ein demokratisch destruktives Misstrauen, dem das Vertrauen abhandengekommen ist. Dieses Misstrauen gilt dann oft nicht einmal einzelnen Personen, sondern den Strukturen, die das Entstehen des Unterschiedsgefühls blockieren. Anders gesagt: Man kann sich noch so sehr um das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger bemühen – wenn sie den politischen Strukturen misstrauen, wird selbst vorhandene Vertrauenswürdigkeit einzelner Personen kaum wahrgenommen. Niedriges Vertrauen ist ein Problem, aber eine Vertrauenswürdigkeit, die niemand mehr wahrnimmt und die ins Leere läuft, ist auch eins.
Das Unterschiedsgefühl ist entscheidend
Die Vertrauenswerte der Schweizer Politik sind auch deswegen höher als in anderen Ländern, weil die Möglichkeit, über Abstimmungen regelmässig Einfluss zu nehmen, das Unterschiedsgefühl am Leben hält. Niedrige Vertrauenswerte oder hohe Misstrauenswerte sind keine Bedrohung, wenn sich in diesen Werten eine konstruktive demokratische Einstellung verbirgt, die auf einem Gefühl der Einflussnahme beruht.
Das Problem der nackten Zahlen vieler Umfragen ist, dass sie immer häufiger medienwirksam als Krise der Demokratie verpackt werden. Aber niedrige Vertrauenswerte sind nur dann ein Problem für die Demokratie, wenn sich in ihnen eine tiefe Frustration über den Wert und den Einfluss der eigenen politischen Stimme verbirgt. Diese tiefere Schicht politischer Frustration lässt sich in Umfragen nur schwer einfangen, weswegen man die Zahlen als Aufforderung zum Nachdenken verstehen und nicht so tun sollte, als würden sie uns selbst schon alles Relevante über sie verraten.
Bereitschaft zu vertrauen schwindet
Folglich sollte man der Demokratie, zum Beispiel im Nachgang zur Abstimmung über die BVG-Reform, nicht vorschnell einen Totenschein ausstellen. Vertrauen ist mehr als ein Fragebogenphänomen. In Demokratien ist das Gut, das anvertraut wird, politische Gestaltungsmacht. Aber es zeichnet Demokratien aus, dass ich die Macht, die ich abgebe oder übertrage, indem ich etwa einen Abgeordneten wähle, nie ganz verliere. John Locke (1632–1704) hat in seinem Werk «Zwei Abhandlungen über die Regierung» mit Blick auf das politische Vertrauen deswegen von einem Treuhandverhältnis gesprochen. Indem wir uns an Wahlen und Abstimmungen beteiligen, überlassen wir anderen ein Gut, das sie gleichsam für uns pflegen, damit wir uns anderen Dingen widmen können. Gefällt uns nicht, wie mit diesem Gut umgegangen wird, können wir das Vertrauen entziehen und geben damit zu verstehen, dass wir unsere eigene Gestaltungsmacht nie ganz verloren haben. Auch in diesem Sinne ist Misstrauen in den demokratischen Prozess integriert und muss nicht per se als bedrohlich gesehen werden.
Damit sollen Probleme und Gefahren nicht geleugnet werden. Weil Vertrauen mit Verletzlichkeit und Ungewissheit einhergeht, weicht man ihm aus und sucht nach starker Gewissheit oder fordert Formen vollkommener Sicherheit, die es nicht geben kann.
Vertrauen durch Sicherheit – das ist mittlerweile nicht nur in der Werbung ein beliebter Slogan. Die Bereitschaft, sich verletzlich zu machen, geht zurück. Damit schwindet auch die Bereitschaft, anderen zu vertrauen. Man kann das daran erkennen, dass Fehler kaum verziehen werden. Gerade im Politischen werden sie schnell als schweres persönliches Vergehen gedeutet, so, als wären die politischen Vertreter isolierte Handelnde, die ihre Entscheidungen allein treffen und auch ganz allein in der Lage sind, die Folgen ihres Handelns genau zu überblicken. Die vielen Skandale in Politik und Gesellschaft verraten auf diese Weise immer auch etwas über die Erwartungen derer, die fehlerhaftes Verhalten entlarven und gleichzeitig suggerieren, es sei vermeidbar.
Schaffen Anwälte Vertrauen?
Hinzu kommen die wachsende Bereitschaft, Konflikte rechtlich zu bearbeiten, und die im Management beliebte Annahme, Vertrauensprozesse seien steuerbar. Die Berufung auf das Recht als Lösungsinstanz politischer und sozialer Konflikte will die Ermessensspielräume beschneiden, die Vertrauen gewähren und das Verhalten anderer festlegen – sollen doch die Anwälte für uns regeln, was wir selbst nicht mehr regeln können. Auch das ist ein Versuch, sich weniger verletzlich zu machen und den Austausch mit anderen klar definierbaren Regeln zu unterwerfen.
Umgekehrt räumen viele Managementtheorien zwar ein, wie relevant Vertrauen für das Führen eines Unternehmens ist, aber sie legen nahe, man könne Vertrauen durch bestimmte Massnahmen herbeiführen. Auch das verkennt die spezifische Dynamik des Vertrauens. Es braucht seine eigene Zeit und seine eigenen Räume, es kann nicht von oben verordnet werden. So wollen wir Vertrauen, wir suchen es, wir vermissen es, wir beklagen seinen Verlust, aber wir tun auch viel, damit es sich nicht entwickeln und entfalten kann. Das ist, wenn man so will, die tragische Schizophrenie, in der wir uns etwas ungemütlich eingerichtet haben.
- Siehe auch Hartmann M. (2011). Die Praxis des Vertrauens. Suhrkamp-Verlag. []
Zitiervorschlag: Hartmann, Martin (2024). Ich vertraue – also bin ich verletzlich. Die Volkswirtschaft, 04. November.