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US-Zollpolitik: Ein Impuls für das internationale Handelsrecht?

Die Zölle der USA rütteln am internationalen Handelsrecht. Darin liegt eine Chance: Die gegenwärtige Krise könnte die überfällige Modernisierung des internationalen Handelsrechts anstossen.
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US-Präsident Donald Trump kündigt am 2. April 2025 im Rosengarten des Weissen Hauses neue Zölle auf Importe an. (Bild: Keystone)

Die Ursprünge des heutigen internationalen Handelsrechts reichen fast hundert Jahre zurück, bis ins Jahr 1930: Anlass waren damals Zollerhöhungen der USA, welche die damalige Weltwirtschaftskrise massgeblich verschärften und die politischen Spannungen befeuerten, die zum Zweiten Weltkrieg führen sollten.

In den frühen Nachkriegsjahren verhandelte die internationale Gemeinschaft über verbindliche Regeln im internationalen Warenverkehr, um zu verhindern, dass je wieder Zölle derart instrumentalisiert werden. Aus den Verhandlungen resultierte das General Agreement on Tariffs and Trade (Gatt) von 1947. Dieses sollte in der Folge zur quasiverfassungsrechtlichen Grundlage werden für das gesamte, auch heute noch geltende Wirtschaftsvölkerrecht.

Grundstruktur der internationalen Zollregeln

Alle 166 Mitgliedsstaaten der Welthandelsorganisation (WTO) haben in ihren Gatt-Verpflichtungslisten für jedes Gut einen individuellen, maximalen Zolltarif festgelegt. Sie dürfen damit im Grundsatz keine höheren Zölle erheben. Tatsächlich erheben die WTO-Mitgliedsstaaten heute deutlich tiefere Zölle, als ihnen dies gemäss diesen Listen zustehen würde. So erhebt beispielsweise die Schweiz seit 2024 gar keine Zölle mehr auf den Import von Industriegütern[1], und auch auf anderen Gütern liegt der «angewendete» Zollsatz deutlich unter dem maximal zulässigen Zolltarif.

Die maximalen Zolltarife sind Gegenstand von Verhandlungen. Insgesamt wurden sie in acht globalen Gatt-Verhandlungsrunden kontinuierlich reduziert. Dies gelang so erfolgreich, dass seit der WTO-Gründung 1995 die global zulässigen maximalen Zolltarife so tief sind, dass sie im Grundsatz kein wesentliches Handelshindernis mehr darstellen. Der Fokus der globalen Verhandlungsrunden hat sich seither denn auch auf den Regelungsbedarf in anderen Bereichen verschoben – etwa auf öffentliche Beschaffungen und Subventionen, auf die Integration von Entwicklungsländern in den globalen Markt oder die Regulierung von E-Commerce.

Wendet ein Staat tiefere Zölle auf Importe aus einem anderen WTO-Mitgliedsland an, muss er diese tieferen Zölle auf alle Importe des gleichen Guts aus allen anderen WTO-Mitgliedsstaaten anwenden. Dieses sogenannte Meistbegünstigungsprinzip stellt sicher, dass sich die Zollpolitik kontinuierlich in Richtung «Öffnung» weiterentwickelt.

Ausnahmen vom Meistbegünstigungsprinzip

Ob und in welchem Umfang Ausnahmen vom Meistbegünstigungsprinzip erlaubt sein sollen, war in den Gatt-Verhandlungen heftig umstritten. Die USA argumentierten damals, dass Ausnahmen nur zum Ausgleich von unfairen Handelsvorteilen zulässig sein sollten. Das Vereinigte Königreich hingegen insistierte, dass Abweichungen auch basierend auf Freihandelsabkommen erlaubt sein sollen, und konnte sich schliesslich durchsetzen. Demnach müssen heute tiefere Zölle nicht auf alle WTO-Mitgliedsstaaten ausgedehnt werden, wenn sie auf einem Freihandelsabkommen basieren, welches die Zölle auf den gesamten Handel[2] zwischen den Partnerstaaten substanziell reduziert.

Nach Inkrafttreten des Gatt zeigte sich, dass Entwicklungsländer nicht ganz aus eigener Kraft im globalen Wettbewerb mithalten können. Um diesen Nachteil auszugleichen, ist es heute den WTO-Mitgliedsstaaten freigestellt, Entwicklungsländern Zollpräferenzen zu gewähren, ohne dass diese auf alle WTO-Mitgliedsstaaten ausgedehnt werden müssen. Allerdings dürfen diese nicht zwischen Entwicklungsländern diskriminieren, welche den gleichen Entwicklungs-, Finanz- und Handelsbedarf teilen. Auch die Schweiz erlässt den am wenigsten entwickelten Ländern die Importzölle auf gewisse Produkte (beispielsweise bei Kaffee und Kakao).

Zölle gegen Dumping und Schutzzölle

Daneben dürfen angewendete Zölle auch aus wettbewerbsrechtlichen Gründen von den vereinbarten maximalen Zolltarifen und dem Meistbegünstigungsprinzip abweichen. Ein Beispiel sind Anti-Dumping-Massnahmen. Wenn Importgüter, welche unter ihrem Marktwert verkauft werden (Dumping), die einheimische Industrie erwiesenermassen schädigen, dürfen die Zölle spezifisch auf diese Güter erhöht werden. Diese Ausnahme könnte zur Anwendung gelangen, wenn chinesische Güter, die nicht mehr in die USA exportiert werden können, zu Tiefpreisen in anderen Ländern auf den Markt gelangen und die dort ansässige Industrie schädigen. Dann wären höhere Zölle auf die betreffenden chinesischen Güter erlaubt. Ebenfalls zulässig sind Zölle auf Güter, die günstig verkauft werden, weil sie mit staatlichen Subventionen produziert wurden, und deshalb die einheimische Industrie erwiesenermassen schädigen. Solche Ausgleichsmassnahmen sind beispielsweise in der EU für Solarpanels aus China in Kraft.

Wenn eine unvorhersehbare Entwicklung die einheimische Industrie erwiesenermassen bedroht, dürfen güterspezifische Schutzzölle erhoben werden. Diese gelten aber im Gegensatz zu Anti-Dumping- und Ausgleichsmassnahmen «erga omnes», also gegenüber allen WTO-Mitgliedsstaaten. Umfang und Dauer von Schutzmassnahmen sind beschränkt auf die Abwendung der Bedrohung. Angesichts der gegenwärtigen Entwicklungen und der damit verbundenen Handelsumlenkungen könnten solche Schutzmassnahmen auf der ganzen Welt notwendig werden. Von solchen Schutzzöllen wäre aufgrund der «Erga omnes»-Regel auch die Schweiz mitbetroffen.

Übrige Ausnahmen

Im Rahmen eines eng definierten, spezifischen politischen Kontexts (konkret zum Schutz der nationalen Sicherheit, der öffentlichen Moral, des Lebens und der Gesundheit von Menschen, Tieren und Pflanzen oder im Interesse des Erhalts natürlicher Ressourcen) könnten grundsätzlich auch diskriminierende Zölle erhoben werden. So haben sich etwa die USA 2018 bei den Zöllen auf Stahl und Aluminium auf den Schutz der nationalen Sicherheit berufen und begründen in gleicher Weise auch die gegenwärtigen Zollerhöhungen. Allerdings hat das WTO-Panel 2022 in der Beschwerde gegen die US-Zölle auf Stahl und Aluminium der Schweiz recht gegeben und festgestellt, dass die Zölle die Voraussetzungen der Ausnahme zum Schutz der nationalen Sicherheit nicht erfüllen (siehe Kasten).

Bei Vergeltungsmassnahmen gilt hingegen Vorsicht. Diese sind nur zulässig, wenn eine Verletzung von internationalem Handelsrecht rechtskräftig feststeht und vom verurteilten Staat nicht behoben wird (siehe Kasten). Rechtmässige Vergeltungszölle in der Höhe des verursachten Schadens sind zulässig, aber nicht auf die von der Verletzung betroffenen Güter beschränkt. Ihr gezielter Einsatz kann somit als politisches Druckmittel genutzt werden, um den betreffenden Staat zum Einlenken zu bringen.

Dringend nötige Modernisierung

Diese Ausnahmen vom Meistbegünstigungsprinzip bestehen fast unverändert seit knapp 80 Jahren. Neuere Entwicklungen in den Handelsbeziehungen zwischen den WTO-Mitgliedsstaaten sind nicht mitberücksichtigt. Dazu zählen neben Abhängigkeiten aufgrund von Handelsdefiziten oder Rohstoffvorkommen auch die Folgen der Praxis, Handelsvorteile zu erringen durch Unterschreiten globaler Umweltschutz- und Menschenrechtsstandards, sowie Wettbewerbsverzerrungen aufgrund moderner Industriepolitik. Wie mit ihnen umzugehen ist, ist bis heute umstritten.

Mit dem Erlass der sogenannt reziproken Zölle im April 2025 haben sich die USA radikal von den bestehenden Rechtsgrundlagen in der internationalen Zollpolitik abgewendet. Allerdings verstossen nicht nur die von US-Präsident Trump geforderten Konzessionen in Form von unilateralen oder sektoriellen Zollerleichterungen für Importe aus den USA gegen das geltende internationale Handelsrecht, sondern auch die Vergeltungszölle. Damit droht gegenwärtig der knapp 80 Jahre alte internationale Konsens, dass Zölle nicht politisch instrumentalisiert werden dürfen, zu enden.

Um die Rechtsstaatlichkeit in den internationalen Handelsbeziehungen aufrechtzuerhalten, ist es einerseits wichtig, dass die internationale Gemeinschaft nicht unbedacht auf den Verstoss der USA reagiert und nicht selbst gegen das internationale Handelsrecht verstösst. Anderseits muss – auch unabhängig von der US-Zollpolitik – das anwendbare Recht dringend modernisiert werden: Die gegenwärtige Krise der Rechtsstaatlichkeit in der internationalen Zollpolitik könnte damit auch eine Chance sein, die Rechtsgrundlagen moderner Handelsbeziehungen neu auszuhandeln.

  1. Siehe Zimmermann, Thomas A. (2023). Wie die Schweiz vom Abbau der Industriezölle profitiert. «Die Volkswirtschaft», 4. Dezember. []
  2. Als Richtwert gilt: 85 bis 90 Prozent des Handelsvolumens müssen von den präferenziellen Zollerleichterungen erfasst sein. []

Zitiervorschlag: Sieber-Gasser, Charlotte (2025). US-Zollpolitik: Ein Impuls für das internationale Handelsrecht? Die Volkswirtschaft, 10. Juni.

Vergeltungszölle

Vergeltungszölle sind gemäss internationalem Handelsrecht nur zulässig, wenn ein Verstoss rechtskräftig feststeht. Weil allerdings das ständige Berufungsorgan der WTO, der Appellate Body, seit 2019 handlungsunfähig ist, kann heute mit einem Weiterzug verhindert werden, dass ein WTO Panel-Entscheid rechtskräftig wird. So haben die USA beispielsweise den WTO Panel-Entscheid in der Beschwerde der Schweiz gegen die US-Zölle auf Stahl und Aluminium weitergezogen. Weil somit kein rechtskräftiger Entscheid feststeht, ist die Schweiz bis heute nicht berechtigt, Vergeltungsmassnahmen zu ergreifen.

Trotz diesem Mangel hat China bereits im April 2025 ein WTO Streitbeilegungsverfahren gegen die USA eröffnet, in Reaktion auf die sogenannt reziproken Zölle. Auch die EU hat ein WTO-Verfahren angekündigt.

Allenfalls stehen in einem Handelsstreit die Streitbeilegungsverfahren aus einem Freihandelsabkommen zur Verfügung oder es kann für den Weiterzug im zweistufigen WTO-Verfahren auf das Multi-Party Interim Appeal Arbitration Arrangement (MPIA) ausgewichen werden. Dieses, auch von der Schweiz ratifizierte Abkommen, übernimmt zwischenzeitlich die Rolle des Appellate Body in WTO Streitbeilegungsverfahren.a Auf diese Weise kann weiterhin ein rechtskräftiger Entscheid in einem Handelsstreit ergehen.

a Während China und die EU zu den Mitgliedstaaten zählen, haben die USA das Abkommen nicht unterzeichnet.