
Die Spieltheorie zeigt: Drohungen, Bluffs oder Eskalationen können Teil einer Strategie sein. Szene aus dem Film «The Wonderful Story of Henry Sugar». (Bild: Keystone)
Die Idee, mit Zöllen die eigene Industrie zu stärken und die Staatseinnahmen zu erhöhen, wirkt auf den ersten Blick verlockend. Doch fast immer führen Zölle am Schluss zu höheren Preisen im Inland.[1] Und häufig reagieren Handelspartner mit Gegenzöllen – sodass eine Spirale gegenseitiger Massnahmen beginnt, die am Ende allen involvierten Volkswirtschaften inklusive der heimischen Wirtschaft schadet.
In den 1960er-Jahren führten beispielsweise europäische Importzölle auf amerikanisches Pouletfleisch zum sogenannten Chicken War. Die USA reagierten mit der bis heute geltenden «Chicken Tax» auf leichte Nutzfahrzeuge aus Europa. Diese Eskalationsspirale prägt die Wirtschaftsstruktur, insbesondere in Automobil- und Fleischproduktion, beidseits des Atlantiks bis heute.[2] Andere Zölle – etwa auf Käse, Fleisch oder saisonales Obst, das in die Schweiz importiert wird – blieben hingegen ohne Vergeltung. Zölle sind längst mehr als blosse Staatseinnahmequellen – sie sind strategische Züge auf dem internationalen Spielbrett der Handelsdiplomatie.
Spieltheorie analysiert Entscheidungen
Um zu verstehen, warum Zölle zu Kooperation oder Vergeltung führen, hilft die Spieltheorie. Sie analysiert strategische Entscheidungen mathematisch.[3] Spieltheorie zeigt, was für einen einzelnen Akteur am besten ist und wie seine Entscheidung die der anderen beeinflusst.
In einem Spiel wählt jeder Spieler aus möglichen Strategien. Regierungen wählen etwa: Zölle erheben oder Freihandel. Nach der Entscheidung zeigt sich der Erfolg oder der Misserfolg in Form von quantifiziertem Nutzen. Eine Entscheidung ist eine beste Antwort, wenn sie bei fixierten Entscheidungen der anderen den eigenen Nutzen maximiert. Ein sogenanntes Nash-Gleichgewicht liegt dann vor, wenn alle ihre beste Antwort wählen und sich niemand durch einseitiges Abweichen verbessern kann.
Modelle für den Handelsstreit
In der einfachsten Version eines Zollspiels wählen zwei Länder jeweils zwischen freiem Handel und Zöllen. Bei der aktuellen US-Zollpolitik sind drei klassische Spieltypen dieser Art besonders aufschlussreich:
Das erste Spiel ist das Prisoner’s Dilemma (siehe Abbildung 1a). Hier führt gegenseitiger freier Handel zu maximalem Wohlstand (3+3=6). Dennoch hat jedes Land einen Anreiz, davon abzuweichen und einseitig Zölle zu erheben. Bleibt ein Land beim Freihandel, während das andere Zölle einführt, steht ersteres schlechter da. Aus ökonomischem Eigeninteresse hat es allen Grund zur Vergeltung. Im Endergebnis führen beide Seiten Zölle ein und landen in der rechten unteren Ecke (2, 2). Beide Länder stehen dann schlechter da als in der zollfreien Welt.
Anders ist das Chicken Game als strategisches Modell (siehe Abbildung 1b). Auch hier ist gegenseitiger Freihandel ideal, und wie im Prisoner’s Dilemma profitiert ein Land, wenn es Zölle erhebt, während das andere offen bleibt. Der Unterschied: Beiderseitige Zölle sind so schädlich, dass Zurückhaltung die bessere Antwort ist. Eine Vergeltung mit Zöllen auf Zölle lohnt sich nicht, weil das Freihandelsland dadurch noch mehr verlieren würde (0, 0). Eines der beiden Länder steht folglich im Gleichgewicht (obwohl rational) immer als Feigling da – daher der Name Chicken Game (von engl. «to chicken out»). Das Gleichgewicht ist also asymmetrisch: Ein Land verhängt Zölle, das andere nicht.
Eine dritte Spielvariante nennt sich Stag Hunt oder Hirschjagd (siehe Abbildung 1c). Hier sind zwei Gleichgewichte möglich: gegenseitiger Freihandel mit maximalem Gewinn oder beidseitige Abschottung als weniger effiziente, aber möglicherweise stabilere Alternative. Kein Land will sich einseitig öffnen ohne die Garantie, dass die andere Seite es ebenso tut. Von unkoordiniertem Abweichen profitiert niemand. Vertrauen und Koordination sind in diesem Spiel deshalb entscheidend.
Abb. 1: Drei einfache Spielmodelle zur Illustration der aktuellen US-Zollpolitik
Welches Spiel spielen die Länder beim aktuellen Zollstreit? Die Wahrheit ist: Keine bilaterale Handelsbeziehung ist so simpel wie diese drei Spiele. Dennoch ähneln die Anreizstrukturen oft einem dieser Grundmuster, und verschiedene Spiele können koexistieren. Spielen Grossbritannien und die USA ein Chicken Game? Sind China und die USA im Prisoner’s Dilemma gefangen? Befinden sich die EU und die USA im Stag-Hunt-Modell?
Wiederholung und Kooperation
Entscheidend ist zudem: Handelsbeziehungen entwickeln sich über die Zeit. Länder blicken auch auf die Vergangenheit und richten ihre Entscheidungen danach aus. Wichtig ist also nicht nur, welches Spiel gespielt wird – sondern auch, wie dieses Spiel über die Zeit gespielt wird. Eine mögliche Strategie in solchen wiederholten Spielen ist «Tit for Tat» («wie du mir, so ich dir»): zunächst kooperieren und danach jeweils das Verhalten der Gegenseite spiegeln.
Diese Strategie kann Kooperation stabilisieren – denn wenn ein Land glaubhaft vermittelt, dass es bei Abweichungen des Partnerlandes immer Vergeltungsschläge ausübt, dann macht diese Drohung Abweichungen unattraktiver. China scheint aktuell eine solche Strategie zu verfolgen.
Drohung als Verhandlungstaktik
Doch die Wiederholung eines Spiels allein garantiert noch keine Kooperation. Teilweise kann Eskalation auch als Signal der Stärke dienen und die Erwartungen der Gegenseite beeinflussen. Länder wie die USA könnten also Zölle verhängen oder damit drohen, Härte zu demonstrieren, um in künftigen Verhandlungen bessere Karten zu haben – selbst wenn es dem Land kurzfristig schadet. So liesse sich die momentane US-Zollpause vor dem Hintergrund der Verhandlung neuer Handelsabkommen deuten.
Die Androhung von Zöllen kann also rein temporär sein. Die Handelspartner sollten daher womöglich nicht direkt mit Gegenzöllen reagieren, wenn damit weitere Eskalation verhindert wird. Denn sobald sich zeigt, dass die Androhung folgenlos ist, kann sich das Spiel wieder ins vorherige Gleichgewicht einpendeln.
Eskalation als letzter Ausweg
Möglicherweise ist die Androhung von Zöllen aber mehr als Verhandlungstaktik. Ein Land kann auch Zölle erheben, um ein ungünstiges Gleichgewicht aufzubrechen. Es nimmt dabei kurzfristige oder sogar mittelfristige Verluste in Kauf – in der Hoffnung, langfristig besser abzuschneiden. Gut möglich, dass die US-Zölle auf chinesische Produkte auf ein solches Ergebnis abzielen.
Ob es zur Eskalation kommt, hängt vom Stärkeverhältnis der beiden Länder ab. Das erinnert an das Konzept der «Eskalationsdominanz» im Kalten Krieg: Jedes Land schätzt seine Chancen in einer Eskalation ab.[4] Glauben beide Seiten, langfristig zu gewinnen, dann drohen langwierige und verlustreiche Konflikte.
Das Rationale im Irrationalen
Was also ist eine rationale Strategie im Zollspiel? Das hängt vom grösseren Zusammenhang ab.[5] Ein grosser, scheinbar riskanter Zoll kann erfolgreich sein, wenn es gelingt, Erwartungen zu verändern, Reputation aufzubauen oder ein ungünstiges Gleichgewicht zu verlassen. Umgekehrt kann sich ein relativ kleiner Zoll als kontraproduktiv erweisen, wenn andere Länder mit harten Gegenmassnahmen reagieren.
Die Spieltheorie zeigt: Asymmetrien, Aggression oder Vergeltung sind nicht per se irrational. Drohungen, Bluffs oder Eskalationen können durchaus strategischen Zwecken dienen. Doch der Erfolg hängt nicht nur von der eigenen Strategie ab, sondern auch davon, wie der Rest der Welt darauf reagiert.
- Für eine wirtschaftswissenschaftliche Analyse siehe den Artikel von Föllmi und Hartmann in diesem Schwerpunkt. []
- Siehe Macey (1989). []
- Zur Einführung in die Spieltheorie siehe Osborne und Rubinstein (1994). []
- Siehe Davis and Stan (1984). []
- Zur szenariobasierten Analyse der US-Zollpolitik siehe den Artikel von Gersbach in diesem Schwerpunkt. []
Literaturverzeichnis
- Davis, P. K. und P. J. E. Stan (1984). Concepts and Models of Escalation. Rand Strategy Assessment Center Report.
- Macey, J. R. (1989). Chicken Wars as Prisoners’ Dilemma: What’s in a Game. Notre Dame Law Review, 447.
- Osborne, M. J. und A. Rubinstein (1994). A Course in Game Theory, MIT Press.
Bibliographie
- Davis, P. K. und P. J. E. Stan (1984). Concepts and Models of Escalation. Rand Strategy Assessment Center Report.
- Macey, J. R. (1989). Chicken Wars as Prisoners’ Dilemma: What’s in a Game. Notre Dame Law Review, 447.
- Osborne, M. J. und A. Rubinstein (1994). A Course in Game Theory, MIT Press.
Zitiervorschlag: Jantschgi, Simon; Nax, Heinrich (2025). Zölle und Gegenzölle: Wer spielt welches Spiel? Die Volkswirtschaft, 06. Juni.