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Risiken mit Algorithmen erkennen

Das Werkzeugset der Versicherungsmitarbeitenden erweitert sich dank künstlicher Intelligenz. So erkennen Algorithmen etwa problematische Passagen in den Policen.

Risiken mit Algorithmen erkennen

Wie wirkt sich ein Erdbeben in Los Angeles auf die Infrastruktur aus? KI-Programme helfen bei den Berechnungen. (Bild: Shutterstock)

Künstliche Intelligenz (KI) ist derzeit in aller Munde. Hollywood stellt sich die Technologie vor allem als menschenähnliche allgemeine künstliche Intelligenz vor: Beispiele sind das rücksichtslose Skynet in «Terminator», die sich entwickelnde Samantha in «Her» oder eine Schwarmintelligenz wie die Borg in «Star Trek». Diese Filme beeinflussen die Vorstellung, die viele Menschen von KI haben.

Ausserhalb der Filmwelt steht KI meist für jede Art von Automatisierung. So hat sich in vielen Unternehmen die Vollautomatisierung bestimmter Prozesse – die sogenannte robotergesteuerte Prozessautomatisierung (RPA) – durchgesetzt. Einfach ausgedrückt, ersetzt RPA einen bestehenden Prozess (oder baut auf einem solchen auf) und tritt an die Stelle des Menschen.

Beide dieser Formen sind für die Finanz- und Versicherungsbranche, die sich vermehrt mit KI auseinandersetzt, nicht direkt relevant. Sowohl RPA als auch die allgemeine künstliche Intelligenz lenken die Diskussion von drei Arten von KI ab, über die nicht genug gesprochen wird.

Werkzeug für Mitarbeitende


Die erste für Versicherer interessante KI-Ausprägung ist die «erweiterte Intelligenz». Der Rückversicherer Swiss Re unterstützt seine Mitarbeitenden bei der Prüfung von (Rück-)Versicherungsverträgen beispielsweise mit Algorithmen, die Verträge maschinell lesen und sprachliche Elemente identifizieren, welche problematisch sind. Dadurch können sich die zuständigen Mitarbeitenden, auch Underwriter genannt, auf die kritischen Bereiche konzentrieren. Zwar bedarf die Technologie noch einiger Entwicklungsarbeit, doch bereits in dieser frühen Phase zeigt sich, dass die Produktivität verbessert werden kann.

Es ist denkbar, dass Schadenbearbeiter automatisierte Systeme einsetzen, um festzustellen, welche Schadenforderungen gründlicher geprüft werden müssen. Grundsätzlich gilt: Die erweiterte Intelligenz hilft uns, bessere und kostengünstigere Prozesse zu entwickeln. Den Menschen ersetzt sie jedoch nicht. Computer können zwar Milliarden von Berechnungen durchführen und Daten ohne Qualitätsverlust reproduzieren – doch sie haben nach wie vor grosse Mühe, wenn es um die Bewältigung komplexer, mehrdeutiger Situationen geht, die Kreativität und die Verknüpfung impliziter und expliziter Daten und Informationen erfordern.

KI gezielt einsetzen


Die zweite KI-Ausprägung ist die «intelligente Automatisierung». Auch wenn sich RPA im privaten wie im öffentlichen Sektor weiter durchsetzen wird, sollten wir eine vollständige Automatisierung kollektiv ablehnen und darauf bestehen, Menschen weiterhin in Prozesse einzubinden – denn gerade bei der Problemlösung in unvorhergesehenen oder ungewöhnlichen Situationen sind Menschen immer noch überlegen. Im Bereich der Schadenbearbeitung würde eine vollständige RPA wahrscheinlich zu einer Häufung von Betrugsfällen führen, zumal die Maschinen von cleveren Hackern «überlistet» werden könnten.

Wir haben bereits eine Vorstellung davon, wie die Prozessverantwortlichkeiten zwischen KI und Menschen aufgeteilt werden können: Während die Stärken von KI Berechnungen, Konsistenz, Allgegenwart, Detailliertheit und Vernetzbarkeit im grossen Massstab sind, zeichnen sich Menschen durch ihre Anpassungsfähigkeit, ihre Selbstständigkeit sowie ihr Verständnis für implizite und subtile Sachverhalte aus. Weiter verfügen Menschen über eine bessere Vorstellungskraft insbesondere bei der Problemlösung und sind robuster bei Systemausfällen. Schliesslich verfügen Menschen im Gegensatz zu Maschinen über ein soziales und emotionales Einfühlungsvermögen. Menschen sollten daher an kritischen Punkten in Systemen oder Prozessen eingesetzt werden.

Ohne eine angemessene Einbindung von Menschen in einen Prozesskreislauf ist die Wahrscheinlichkeit gross, dass bei Ausfällen mehr Geld verloren geht, als in Zeiten des normalen Betriebs eingespart wird. Viele Prozesse innerhalb eines typischen Versicherungsunternehmens profitieren von einer vertieften Auseinandersetzung mit der Frage, wie Marketing und Vertrieb, Verwaltungsaufgaben wie Schadenbearbeitung, Kapitalverteilung und Asset-Liability-Management auf intelligente Weise automatisiert werden können.

Die nächste Stufe


Der dritte KI-Typus – die sogenannte adaptive Intelligenz – ist grösstenteils noch Zukunftsmusik. Noch ist der Mensch Algorithmen in Sachen Anpassungsfähigkeit klar überlegen. Mit einigen der neueren Ansätze im Bereich des maschinellen Lernens wie beispielsweise Meta-Learning, Ensemble-Modeling, Data-Augmentation und bestimmten Arten des bestärkenden Lernens macht die KI-Branche allerdings rasche Fortschritte in diesem Bereich.

Ein vielversprechender Ansatz ist es, die Einschätzung eines Problems durch einen Fachexperten mit konkreten Daten zu kombinieren. So kann beispielsweise besser eingeschätzt werden, wie sich ein Erdbeben auf die Infrastruktur einer Stadt auswirkt.

Zusammen mit einem Technologiepartner und einem Kunden erforscht das Swiss Re Institute, wie das adaptive maschinelle Lernen die Versicherung von sachschadenunabhängigen Betriebsunterbrechungen beeinflussen könnte. Wie können die Preise gestaltet werden? Welche Produkte sollten verkauft werden? Um Antworten auf solche Fragen zu finden, könnte ein Toolset mit adaptiver Intelligenz die bestehenden Underwriting-Prozesse ergänzen. Die ersten Erfahrungen sind vielversprechend. So könnten die Tools dazu beitragen, die Deckungslücke in Bereichen zu verringern, in denen die meisten Unternehmen und Staaten unterversichert sind.

Alle drei Arten von KI erfordern weitere Entwicklungsarbeit, Gespräche, empirische Forschung und Experimente. Unternehmen und Behörden, die sich mit diesen neuen Technologien auseinandersetzen, sind gut beraten, das Augenmerk auf erweiterte Intelligenz, intelligente Automatisierung und adaptive Intelligenz zu legen. Dies ist zielführender, als immer wieder die extremen Szenarien – KI-gelenkte Utopien oder von KI ausgelöste Apokalypsen – in den Fokus zu rücken.

Ich bin überzeugt, dass wir wegweisende Innovationen sehen werden, denen es gelingt, die Synergien von Menschen und Maschinen zu nutzen, indem künstliche Intelligenz den Menschen unterstützt, nicht aber ersetzt. Nur wenn diese KI-Werkzeuge auf gekonnte und bedachte Weise eingesetzt werden, wird es gelingen, Unternehmen und Organisationen erfolgreich zu transformieren.

Zitiervorschlag: Jeffrey R. Bohn (2019). Risiken mit Algorithmen erkennen. Die Volkswirtschaft, 21. November.