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Agrarpolitik – die Sicht der Milchproduzenten

Agrarpolitik - die Sicht der Milchproduzenten

Eine breite Öffentlichkeit anerkennt den durch die Agrarreform ausgelösten Unternehmergeist der Bauern und ihre Bemühungen, unterschiedliche Erwartungen verschiedenster Anspruchsgruppen unter einen Hut zu bringen und soweit möglich zu erfüllen. Dagegen kritisieren Exponenten aus Politik und Wissenschaft, die Landwirtschaft koste zu viel und sei ineffizient. Sie fordern ein noch höheres Reformtempo und die Umlagerung der Bundesmittel in Bereiche mit höherer Wertschöpfung. Aus Sicht der Milchproduzenten ist die AP 2011 auf die notwendigen Anpassungen der AP 2007 zu beschränken und eine grundlegende Überprüfung der Agrarpolitik einzuleiten, sobald die aussenhandelspolitischen Rahmenbedingungen klarer sind. Eine Kürzung der Bundesmittel ist umso inakzeptabler, als keine Bereitschaft besteht, den aktuellen Mitteleinsatz auf seine Effizienz hin zu überprüfen.

Unterschiedliche Wahrnehmung der Reformen


Die betroffenen Bauern nehmen die Reformen sehr unterschiedlich wahr, und zwar nicht nur aufgrund unterschiedlicher subjektiver Wertvorstellungen. Das Kernstück der Agrarreform – die Entkoppelung von Preis- und Einkommenspolitik und die Abgeltung der gemeinwirtschaftlichen Leistungen durch flächenbezogene Direktzahlungen – hat zu ungleichem Anpassungsdruck auf die Betriebe und zu grossen innerlandwirtschaftlichen Umverteilungen geführt. Produktionsorientierte Betriebe sind stärker unter Druck als extensiv produzierende Betriebe, in denen sinkende Preise durch die flächenabhängigen Direktzahlungen ganz oder in grossem Ausmass kompensiert wurden.  Am stärksten betroffen von den bisherigen Reformen sind die Milchproduzenten. Mit der Milchkontingentierung konnte unter der alten Ordnung über die produktgebundenen Stützungen und die daraus resultierenden Preise Einkommen wirksam gesichert werden. Mit der Marktöffnung und dem Stützungsabbau kam die Milchwirtschaft im teuren schweizerischen Kostenumfeld stark unter Druck. Der Strukturwandel bei den Milchbetrieben war in den letzten Jahren doppelt so hoch wie bei den Betrieben insgesamt. Wachstum über die Fläche für die Milchbetriebe ist stark eingeschränkt, weil die extensive Weiterführung von kleinen und kleinsten Betrieben im Nebenerwerb dank den Direktzahlungen interessant bleibt. Die ökonomische Tretmühle, die mit jedem Rationalisierungsschritt in den Betrieben den Brotkorb höher hängt, frustriert viele Produzenten. Wer investiert und arbeitet gerne mehr, um gleichviel oder weniger zu verdienen? Letztlich werden es wohl nur noch diejenigen sein, die wegen fortgeschrittenem Alter oder mangels Alternativen keine andere Wahl haben.  Der Druck auf die Milchwirtschaft hat sich auch im nachgelagerten Bereich ausgewirkt. Mit dem Niedergang des grössten Milchverarbeiters Swiss Dairy Food wurden die industriellen Verarbeitungsstrukturen weit gehend bereinigt. Beim wichtigsten Exportprodukt Emmentaler sind innerhalb weniger Jahre annähernd zwei Drittel der Käsereien verschwunden. Die Verarbeitungskosten wurden reduziert, die Strukturen schlanker und die Vermarktungsleistungen sind besser. Im Vergleich zu anderen Produktionszweigen ist die Milchproduktion konkurrenzfähiger geworden. Im magischen Dreieck von Ökologie, Ökonomie und Sozialverträglichkeit ist das erste Ziel grösstenteils, das zweite und das dritte aber nicht erreicht worden. Insbesondere wird verkannt, dass Sozialverträglichkeit sehr eng mit dem Tempo des Wandels zusammenhängt.

Korrekturbedürftige Agrarpolitik


Das agrarpolitische Instrumentarium wurde seit Reformbeginn nie grundsätzlich auf seine Effizienz bezüglich der Zielerreichung überprüft. Mit der AP 2011 hält der Bundesrat am eingeschlagenen Kurs fest und tritt nicht auf die von breiten Kreisen geäusserte Kritik ein. Er will sich an den mit Reformen verbundenen Umverteilungswirkungen die Finger nicht verbrennen. Die AP 2011 gibt keine Antwort auf die drängenden Herausforderungen und lässt kein Konzept erkennen, das auf die Oberziele der Agrarpolitik ausgerichtet ist. Der einseitige Abbau der Marktstützungen im vorauseilenden Gehorsam zu den internationalen Verpflichtungen ohne Korrekturen bei den Rahmenbedingungen – insbesondere auch auf der Kostenseite – macht die Produktion von Nahrungsmitteln in unserem Land immer unrentabler. Mit einer inkohärenten, nicht nachvollziehbaren Aussenhandelspolitik (WTO, Freihandelsabkommen) setzt der Bundesrat die Landwirtschaft zusätzlich unter Druck. Bei weiter sinkenden Preisen und hohen Kosten soll auch der Zahlungsrahmen reduziert werden.  Gefragt sind ein besseres Gleichgewicht in der Abgeltung von Produktion und Pflegeleistungen – insbesondere im Talgebiet – bei sinkenden Produktepreisen und ein ausgewogeneres Verhältnis in der Behandlung der einzelnen Produktionssektoren.

Zitiervorschlag: Samuel Luethi (2006). Agrarpolitik – die Sicht der Milchproduzenten. Die Volkswirtschaft, 01. September.