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Bürokratiekostenabbau – internationaler Methodenvergleich und das niederländische Erfolgsrezept

Wie können die Bürokratiekosten bzw. administrativen Belastungen in der Schweiz wirksam reduziert werden? Die Antwort auf diese Frage basiert auf einer Expertise des Autors für die Bertelsmann-Stiftung, in der im Rahmen eines internationalen Vergleichs der Messmethoden für Bürokratiebelastung ein Vorschlag für einen Regulierungsdichte- und Bürokratie-Index (ReBiX) für Deutschland entwickelt wurde. Dieser beinhaltet im Kern das in den Niederlanden erfolgreich eingesetzte Standard Cost Model (SCM). Dabei wird ausgehend von Kostenmessungen eine Reduktion der administrativen Lasten für Unternehmen um 25% bis 2007 angestrebt. Was die Erkenntnisse für die Schweiz bedeuten, wird zum Schluss des Artikels reflektiert.

Bürokratieabbau als zentrale wirtschaftspolitische Aufgabe


Bürokratieabbau für Unternehmen stellt – speziell für kleine und mittlere Unternehmen (KMU) – eine zentrale wirtschaftspolitische Aufgabe dar. In zahlreichen europäischen Ländern, bei der OECD und neu auch in der Europäischen Union (EU) wird diese Aufgabe angepackt. Bevor jedoch Massnahmen ergriffen werden können, braucht es eine saubere Datenerhebung und Problemanalyse. Hierzu sind geeignete Messinstrumente erforderlich. International finden sich zahlreiche Indizes, die sich meist mit einer makroökonomischen Messung der Regulierungsdichte oder mit der Messung und Bewertung der Bürokratiebelastungen für die Wirtschaft per Fragebogen beschäftigen.  Bisher fehlte eine kriteriengeleitete Bewertung der Indizes hinsichtlich der dahinter stehenden Methoden und Verfahren. Ebenso gerät zu häufig die Einbettung der Messung in den gesamten Regulierungsprozess – vom Anstoss für ein neues Gesetz über die Gesetzgebung und Anwendung bis zur Evaluation der Wirkungen – und damit das Controlling dieses Gesamtprozesses in Vergessenheit. Politischer Aktionismus ist die Folge. Je früher unnötige Lasten – auch einer sinnvollen und nützlichen Regulierung – erkannt und abgewendet werden, umso besser für alle Beteiligten.  Die Reduzierung der Bürokratiekosten als Ausprägungsform der Transaktionskosten- und Grössennachteile von KMU stellt – neben der Beschäftigung mit Fragen des freien Marktzugangs und einem funktionsfähigen Wettbewerb – die einzige Begründung für eine spezielle KMU-Politik im Bereich der Wirtschaftspolitik dar. Hauptgrund dieser Ausnahme ist der Fixkosteneffekt: Je kleiner das Unternehmen, desto stärker wirken diese Lasten in Form von Fixkosten und erschweren dadurch die Wettbewerbsfähigkeit von KMU.1 Hinzu kommt der Zeitverlust des Unternehmers infolge persönlicher Erledigung administrativer Aufgaben, was eine Verringerung der Ressourcen für das eigentliche Geschäft zur Folge hat.

Ansätze zur Messung und Bewertung von Regulierungsdichte und Bürokratiebelastung


Wie versuchen nun verschiedene Länder oder Institutionen die Auswirkungen der Regulierungen zu verringern? Dem hierzu durchgeführten internationalen Vergleich liegen 24 Ansätze zur Messung und Bewertung von Regulierungsdichte und Bürokratiebelastung zu Grunde. Sie werden nach ihrer Herkunft und ihren Analyseeinheiten in drei Kategorien unterteilt: makroökonomische, mikroökonomische sowie beide Perspektiven kombinierende und weitere Ansätze. In Tabelle 1 und 2 werden diese anhand von Kriterien beurteilt. Dabei ist zu beachten, dass es sich um eine Beurteilung handelt, die vom Informationsstand des Autors und dem Blickwinkel der «Messqualität» beeinflusst worden sein kann. Ergebnis dieses Vergleichs ist die Empfehlung des niederländischen Ansatzes, da dieser methodisch durchdacht und zugleich breit anwendbar ist, wenngleich er nicht alle Regulierungsfolgekosten berücksichtigt.

Erkenntnisse aus dem niederländischen Erfolgsmodell


Nach 15 Jahren Vorarbeit hat die niederländische Regierung für die Legislaturperiode 2003-2007 mit dem Motto «Mitmachen, mehr Arbeit und Bürokratieabbau» beschlossen, die ermittelten administrativen Lasten in Höhe von ca. 16 Mrd. Euro um 25% zu senken. Erreicht wird dies u.a. durch den Einsatz des SCM, das international zunehmend Verbreitung findet. Dänemark, Grossbritannien, Belgien, Norwegen und Schweden messen mit dem SCM; ab 2006 werden auch die EU sowie in Pilotprojekten deutsche Bundesländer und wohl auch die Bundesregierung dieses Modell anwenden.

Drei Erfolgsfaktoren


Aus der Analyse des niederländischen Falls lassen sich drei Erfolgsfaktoren ableiten:  – Ein politischer Unternehmer packt den Bürokratieabbau an, verfolgt dabei ein systematisches, konsequentes Projektmanagement und kommuniziert klar gegenüber den «Stakeholdern» (Parlament, Öffentlichkeit, Verbänden, Bürgern).  – Politisch unabhängige, handlungs- und durchsetzungsfähige Strukturen werden geschaffen – mit dem unabhängigen Evaluations- und Beratungsbüro Actal2 (mit enger Anbindung an die Wirtschaft) sowie der internen Steuerungseinheit im Finanzministerium Ipal3 mit Satelliten in den Ministerien.  – Diese Strukturen sind mit dem einheitlich angewendeten Messinstrument SCM gekoppelt; dadurch wird die erforderliche Transparenz geschaffen, um die Regulierungslobby (Politiker, Beamte oder Interessensvertreter) in die Schranken zu weisen. Die Messung selbst erfolgt entweder in den Ministerien oder – bei grösseren Projekten – durch externe Dienstleister. Insgesamt befassen sich je ca. 15-20 Personen bei Actal und Ipal mit der Thematik.    Berechnet wurden durch den Bürokratieabbau eine Produktivitätssteigerung der Wirtschaft um ca. 1,2% und ein zusätzliches Wirtschaftswachstum von ca. 1,7% pro Jahr. Mittlerweile gilt, dass ohne den Rat von Actal (1- bis 2-seitiger Report) keine Vorlagen mehr im Kabinett besprochen werden. Die drei grossen Parteien im Parlament haben sich neu bei ihren Gesetzesinitiativen zum Einholen des Urteils bei Actal verpflichtet. Jede Fraktion hat einen Bürokratieabbau-Sprecher. So wird ein echter «Sport» daraus.

Welche Hindernisse sind zu überwinden?


Der Parlamentarier und Unternehmer Ger Koopmans führt dazu folgende Ursachen auf:  – Der politische Entscheidungsprozess wird dominiert durch Reaktionen auf Vorfälle;  – viele Teilnehmer im politischen Prozess kennen ihre eigene Rolle und die der Mitspieler nicht;  – in der Politik bestehen keine klaren oder zu viele Prioritäten;  – das Verhältnis zwischen Zentralstaat und dezentralen Behörden ist unklar; – die Behörden versuchen, Ziele durch mehrere Instrumente zu erreichen;  – das Handeln der Regierung wird immer mehr im Detail kontrolliert;  – der Wunsch der Menschen, alle Risiken durch Behörden eindämmen zu wollen;  – die EU als Alibi für Bürokratie – «Gold Plating» als Problem;  – politische Hektik bei politischen Fehlern.

Was wird gemessen?


Entscheidend für die Handhabbarkeit dieser Messungen ist die Beschränkung auf die Informationskosten der Regulierungen. Informationskosten sind genau jene Kosten, die den Unternehmen entstehen, wenn sie ihrer Informationsverpflichtung auf Grundlage gesetzlicher Bestimmungen nachkommen. Es wird nur der administrative Aufwand mit der Erfüllung der Regulierung gemessen; die politischen Ziele werden bewusst nicht bewertet. Damit wird die Diskussion entpolitisiert und kann pragmatisch angegangen werden. Alle Parteien unterstützen dieses Vorgehen.

Aufbau des niederländischen Modells


Ausgangspunkt ist die Analyse der jeweiligen gesetzlichen Regelung; es findet keine allgemeine Fragebogenumfrage statt. Die Informationspflichten der Unternehmen werden ermittelt und in administrative Tätigkeiten heruntergebrochen. Dies können sein: Daten zusammenstellen, Berechnungen durchführen, Formulare ausfüllen oder Daten versenden. Dafür werden drei Parameter ermittelt:  – Kosten (Zeit in Minuten X Tarif intern und extern); – Anzahl betroffener Einheiten (Unternehmen, Arbeitsplätze etc.); – Periodizität (Häufigkeit pro Jahr).    Entscheidend ist, dass diese Kostenparameter standardisiert für ein normal effektiv und effizient arbeitendes Unternehmen ermittelt werden. Damit werden nur diejenigen exogen verursachten Kosten erfasst, die ohne Gesetz von Unternehmen nicht entstehen würden. Ein Beispiel: Eine gewöhnliche Buchhaltung gehört zum Interesse eines jeden Unternehmens, nicht jedoch die flächendeckende Anpassung der Buchhaltung von KMU auf internationale Spezialregelungen für Konzerne. Die Durchführung und Berechnung erfolgt anhand von zehn Schritten. Mit dem vorgeschalteten Quick Scan kann ein Schnell-Überblick über einen ganzen Gesetzesbereich vorgenommen werden. Auf diese Weise wurden etwa die Regulierungen des Landwirtschaftsministeriums «gescannt».  Von über 1600 Regulierungen weisen nur ca. 10% Informationskosten auf. Aus diesen werden wiederum die «grossen Fische» herausgefiltert, die dann mittels des SCM genau durchleuchtet werden, um Ansatzpunkte für eine Reduktion zu identifizieren. Für die gesamten Regulierungen hat sich gezeigt, dass 75% der Lasten in den vier Ministerien Finanzen (Value Added Tax, other taxes), Gesundheit (Consumer Goods Act), Soziales (Health Insurance Act / Social Insurance Coordination Act) und Justiz (Annual Accounts Act) anfallen. Mehr als 50% der Lasten werden letzten Endes von der EU verursacht. Um mit Schwung in die zweite Hälfte der Legislaturperiode gehen zu können, hat Ipal eine Broschüre4 veröffentlicht, in der für jede Reduktionsmassnahme «Was? Wie? Reduktionsbetrag? Wer? Bis wann?» genau festgelegt sind. Damit sollen Einsparungen von durchschnittlich 25% über alle Ministerien hinweg realisiert werden. Einfach, aber wirksam und transparent!

Grenzen des SCM


Allerdings sind auch die Grenzen des SCM zu bedenken. Es findet weder eine Diskussion über die inhaltlichen Verpflichtungen statt, noch werden die indirekten («other compliance costs») sowie die psychologischen Folgekosten ermittelt. Zu denken ist hier etwa an den erforderlichen Umbau von Produktionsanlagen, das Unterlassen von Investitionen sowie «irrationale» Entscheide über den Wegzug ins Ausland. Die tatsächlichen Bürokratiekosten liegen somit deutlich höher. Das erwähnte ReBiX-Modell versucht – aufbauend auf dem SCM – auch diese beiden Kostenkategorien zu erfassen. Zudem wird mit dem SCM bewusst keine Kosten-Nutzen-Analyse, Kosten-Wirkungs-Analyse und Risikoanalyse vorgenommen. Aktuell führt das Institut EIM Business&Policy Research ein Pilotprojekt zur Ermittlung der inhaltlichen Kosten durch. Psychologische Kosten könnten mit Experimenten oder Planspielen ermittelt werden. Hier ist aber noch methodische Arbeit zu leisten. Neu werden auch die Bürokratiekosten der einzelnen Bürger (Behördengänge, Anträge etc.) gemessen. Nicht erfasst werden die Kosten auf Staatsseite. Problematisch bleiben weiterhin die «grauen Regulierungen»: Nicht selten schafft der Staat Regulierungen ab, die dann private Wirtschaftsverbände – im Zeichen der statistischen Notwendigkeit oder auch nur der Marktabschottung – wieder einführen. Für die Unternehmen, die sich diesem privaten Zwang nicht entziehen können, ändert sich damit faktisch nichts.

Schlussfolgerungen für die Schweiz


Die aktuellen Massnahmen von Bund und Kantonen lassen sich mit diesen Grundgedanken zum Bürokratieabbau vereinbaren. Allerdings sollten sie weiter intensiviert und systematisiert werden, um nicht den Befund von Avenir Suisse dauerhaft zu erfüllen, dass der Reformwille in den Nachbarländern stärker ausgeprägt ist als in der Schweiz. Gerade auf dem Gebiet der Bürokratiekosten muss die Schweiz ihren Vorsprung verteidigen resp. ausbauen. Die Einführung von KMU-Verträglichkeitstest auf Bundes- und Kantonsebene versucht auch eine Reduzierung der konkreten Belastungen zu erreichen, indem frühzeitig über weniger belastende Regulierungen nachgedacht wird. Die Massnahmen zu E-Government helfen, die Informations-/Transaktionskosten zu reduzieren. Dazu gehört auch die Vereinheitlichung der Meldeverfahren für Sozialversicherungen und Steuern. Bezüglich des KMU-Forums sollte darauf geachtet werden, dass Unabhängigkeit und Neutralität des Urteils nicht durch interessenspolitische Anliegen überlagert werden. Die Durchführung einer Testphase mit Unternehmen wie bei der Prüfung des neuen Lohnausweises ist ebenfalls zu befürworten. Allerdings sollten die Ergebnisse ernst genommen und das Verfahren nicht als interessenspolitische Übung verstanden werden.  Sollte sich die Schweiz dem SCM-Ansatz anschliessen wollen, so sind weitere Punkte zu beachten:  – Einheitliche Anwendung eines standardisierten, verständlichen Messverfahrens;  – Erarbeitung eines Handbuchs mit Informationen, Vorgehensweisen und Best-Practice-Fällen (wie zurzeit in Deutschland);  – Aufbau einer zentralen Datenbank als «Startschuss» (wie zurzeit in Grossbritannien);  – Klärung der Governance-Frage innerhalb der Regierung sowie nach aussen zu den Anspruchsgruppen;  – Etablierung eines leistungsfähigen Projektmanagements.    Denn nachhaltiger Bürokratieabbau verlangt konsistent aufgebaute und konsequent umgesetzte Massnahmen.

Zitiervorschlag: Christoph Mueller (2006). Bürokratiekostenabbau – internationaler Methodenvergleich und das niederländische Erfolgsrezept. Die Volkswirtschaft, 01. Februar.