Einfacher vom Gymnasium in die Berufsbildung?

Wie weiter nach dem Gymnasium? Rund vier Prozent der Maturandinnen und Maturanden in der Schweiz entscheiden sich im Anschluss für eine Lehre. (Bild: Keystone)
Das Schweizer Bildungssystem gilt als sehr durchlässig. Seit den Neunzigerjahren wurde vor allem die vertikale Durchlässigkeit gestärkt – etwa durch die Berufsmaturität, die Absolvierenden einer Berufslehre den Zugang zu Hochschulen eröffnet. Die horizontale Durchlässigkeit zwischen Allgemeinbildung und Berufsbildung auf Sekundarstufe II war hingegen lange nicht im Fokus der Bildungspolitik.
Das hat sich nun geändert: Ein vom Nationalrat überwiesenes Postulat[1] verlangt vom Bundesrat[2] zu prüfen, wie der Übergang vom Gymnasium in die berufliche Grundbildung einfacher gestaltet werden kann. Im Auftrag des Staatssekretariats für Bildung, Forschung und Innovation (SBFI) haben wir dazu ein Gutachten[3] erstellt, das diese Übergänge untersucht und die Auswirkungen erleichterter Übergänge auf das Bildungssystem abschätzt.
Jede zehnte Person wechselt
Dass dem Übergang vom Gymnasium in die berufliche Grundbildung bislang wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde, ist mit Blick auf aktuelle Zahlen nur bedingt nachvollziehbar: Eine von zehn Personen, die in ein Gymnasium eintritt, beginnt vor oder nach dem Erwerb einer Matura eine Berufslehre.[4]
Rund 7 Prozent brechen das Gymnasium noch vor der Matura ab, um eine Berufslehre zu beginnen (siehe Abbildung 1). Die Anteile variieren allerdings stark zwischen den Kantonen: In den meisten lateinischen Kantonen sind Wechsel in die Berufsbildung häufiger als im Durchschnitt. Zählt man auch die zweisprachigen Kantone Freiburg und Wallis dazu, entfallen 61 Prozent aller Wechsel auf die lateinischen Kantone.
Eine Erklärung dafür könnten die dortigen hohen Gymnasiumseintrittsquoten sein. Denn diese begünstigen Wechsel gleich doppelt: Zum einen steigt mit den vielen Eintritten ins Gymnasium auch die Zahl potenzieller Wechsler. Zum anderen nimmt dadurch auch der Anteil jener zu, die den Anforderungen nicht gerecht werden oder deren Laufbahnvorstellungen und Interessen sich im Verlauf ändern.
Abb. 1: Übertritte in eine Berufslehre vor Erwerb einer Matura
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Auch nach der Matura schlagen einige Personen noch den Weg in die Berufsbildung ein. Rund 4 Prozent der Maturanden beginnen eine Lehre direkt nach dem Maturaabschluss oder verzögert, etwa nach einem Studienabbruch oder einer Erwerbsphase (siehe Abbildung 2). Auch solche Lehreintritte sind in der Westschweiz insgesamt häufiger als in anderen Regionen. Am seltensten sind sie allerdings gerade in den Kantonen Genf und Tessin. Letzteres ist erstaunlich, angesichts des hohen Anteils an Übertritten vor der Matura in diesen Kantonen.
Abb. 2: Eintritte in eine Berufslehre nach gymnasialer Matura
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Schweizweit entscheidet sich also rund jede zehnte Person, die ein Gymnasium beginnt, im Lauf ihrer weiteren Bildungsbiografie für eine Berufslehre. Diese Gruppe ist in vielerlei Hinsicht heterogen: Sie stammt aus verschiedenen Kantonen mit jeweils eigenen bildungspolitischen Rahmenbedingungen und bringt unterschiedliche schulische Leistungen mit. Das macht einheitliche, nationale Fördermassnahmen schwierig.
Auch bei der Berufswahl zeigt sich eine grosse Streuung: Am häufigsten wird nach solchen Übertritten eine kaufmännische Ausbildung mit Eidgenössischem Fähigkeitszeugnis (EFZ) gewählt, Handwerksberufe sind dagegen vergleichsweise selten. Die Eintritte von Maturanden in die berufliche Grundbildung lindern deshalb den Fachkräftemangel nur punktuell, insbesondere im Handwerk, was ein zentrales Anliegen des Postulats wäre.
Vorsicht vor Bildungshierarchien
Da bereits heute einer von zehn Gymnasiasten früher oder später in die Berufsbildung wechselt, stellt sich die Frage: Ist eine zusätzliche Förderung der horizontalen Durchlässigkeit überhaupt noch notwendig oder sinnvoll?
Aus individueller Sicht können solche Wechsel durchaus Bildungsabbrüche verhindern, Ausbildungszeiten verkürzen und damit Bildungswege effizienter gestalten. Aus systemischer Perspektive hingegen kann höhere Durchlässigkeit zusätzlichen Aufwand, höhere Kosten und tiefgreifende Veränderungen im Bildungssystem verursachen. So könnte eine erleichterte Möglichkeit, vom Gymnasium in die Berufslehre zu wechseln, die Attraktivität des gymnasialen Bildungswegs erhöhen und dadurch strukturelle Verschiebungen im Bildungssystem auslösen.
Das zeigt ein Blick ins Ausland. In Deutschland beispielsweise stieg in den letzten Jahrzehnten die Quote der Abiturienten stetig und deutlich an. Daher erhöhte sich auch der Anteil aller Auszubildenden (also Berufslernenden), die über das Abitur verfügen, auf fast ein Drittel.[5] Das hat unter anderem dazu geführt, dass sich die Berufslehre vor allem in anspruchsvollen Berufen zunehmend auf diese Zielgruppe ausrichtet und Abiturienten bei der Lehrstellenvergabe bevorzugt werden.[6]
In Österreich haben vollzeitschulische Berufsausbildungen gegenüber dualen Berufslehren an Bedeutung gewonnen. Der Grund: Die «Berufsbildenden Höheren Schulen» ermöglichen zusätzlich zum Berufsabschluss den allgemeinen Hochschulzugang. Die stetige Zunahme der Personen in diesen Schulen ging mit einem Rückgang bei der klassischen Lehre, die überwiegend im Lehrbetrieb erfolgt, einher.[7] Die Entwicklungen in Deutschland und Österreich führen zu einer Aufwertung allgemeinbildender beziehungsweise vollschulischer Wege auf Kosten der dualen Berufsbildung – und schwächen die Gleichwertigkeit der Bildungswege.
Durchlässigkeit gezielt gestalten
Trotz der genannten Risiken kann eine gezielte Förderung horizontaler Übergänge auch sinnvoll sein – sofern sie differenziert und systemgerecht erfolgt. So wäre etwa zu prüfen, ob Bildungsleistungen, die vor der Matura im Gymnasium erbracht werden, angerechnet werden können. Harmonisierte Kriterien zwischen den Kantonen wären insbesondere dort sinnvoll, wo die Wechselzahlen hoch sind.[8] Allerdings dürfte das Potenzial begrenzt sein, da gymnasiale Inhalte die in der beruflichen Grundbildung geforderten Kompetenzen kaum abdecken.
Besonders Kantone mit hoher Gymnasialquote stehen vor der Herausforderung häufiger Wechsel. Sie müssen daher besonders darauf achten, wie sie die Zuteilung der Jugendlichen auf die verschiedenen Bildungswege über Zulassungsvoraussetzungen, Aufnahmeverfahren und Schulplätze steuern.
Weiteres Potenzial liegt in einer erweiterten Berufsorientierung und -beratung auf der Sekundarstufe I inklusive des Langzeitgymnasiums, das direkt nach der Primarstufe ansetzt. Neu ist sie auch am Gymnasium auf der Sekundarstufe II vorgesehen, wie in der revidierten Maturitätsanerkennungsverordnung[9] festgehalten ist, die seit 2024 in Kraft ist. Der Ausbau des Beratungsangebots ermöglicht es den Kantonen, die berufliche Grundbildung nun auch am Gymnasium stärker bekannt zu machen.
Bereits heute profitieren Maturanden zudem von ein bis zwei Jahre kürzeren Lehrdauern, oder sie können von Teilen des Berufsfachschulunterrichts dispensiert werden. Der Ausbau von Programmen wie «Way-Up», die Maturanden eine vierjährige Berufslehre in zwei Jahren ermöglichen, kann Übergänge zusätzlich erleichtern – insbesondere in Berufen, in denen eine Verkürzung inhaltlich und organisatorisch sinnvoll ist. Entscheidend ist dabei, dass solche Massnahmen eng begleitet werden und ihre Wirkung laufend überprüft wird. So lässt sich horizontale Durchlässigkeit gezielt fördern und die Gleichwertigkeit von Bildungswegen, die eine Stärke der Schweizer Bildungslandschaft darstellt, wahren.
- Siehe Gutjahr (2023). []
- Für Bericht des Bundesrats in Erfüllung des Postulats siehe Bundesrat (2025). []
- Siehe Schweri und Aeschlimann (2025). []
- Der Artikel konzentriert sich auf Gymnasien. Im Gutachten werden aber auch Übergänge von Fachmittelschulen in die berufliche Grundbildung untersucht. Siehe Schweri und Aeschlimann (2025). []
- Siehe Destatis (2025). []
- Siehe Beicht und Walden (2018). []
- Siehe Kriesi et al. (2022). []
- Siehe Aeschlimann und Schweri (2024). []
- Siehe Art. 31, MAV. []
Literaturverzeichnis
- Aeschlimann, B. und J. Schweri (2024). Kein Anschluss ohne Abschluss? Durchlässigkeit zwischen Gymnasium und beruflicher Grundbildung. OBS EHB Trend im Fokus. Zollikofen: Eidgenössische Hochschule für Berufsbildung EHB.
- Beicht, U. und G. Walden (2018). Neue Bildungsexpansion und Verdrängungseffekte in der betrieblichen Ausbildung. Sozialer Fortschritt: Unabhängige Zeitschrift für Sozialpolitik, 67(3), 141–172.
- Bundesrat (2025). Chancen eines erfolgreichen Übertritts vom Gymnasium in die berufliche Grundbildung erhöhen. Bericht des Bundesrats in Erfüllung des Postulats 23.3663 Gutjahr vom 13.06.2023.
- Destatis (2025). Statistik der allgemeinbildenden Schulen Deutschland. Schüler/-innen, Schulanfänger/-innen und Absolvent/-innen und Abgänger/-innen.
- Gutjahr, D. (2023). Die Chancen eines erfolgreichen Übertritts vom Gymnasium in die Berufslehre erhöhen (Postulat 23.3663). Schweizerische Volkspartei.
- Kriesi, I., L. Bonoli, M. Grønning, M. Hänni, J. Neumann und J. Schweri (2022). Spannungsfelder in der Berufsbildung international und in der Schweiz – Entwicklungen, Herausforderungen, Potentiale. OBS EHB Trendbericht 5. Zollikofen: Eidgenössische Hochschule für Berufsbildung EHB.
- Schweri, J. und B. Aeschlimann (2025). Gutachten. Mögliche Auswirkungen einer Förderung der horizontalen Durchlässigkeit auf Sekundarstufe II. Eidgenössische Hochschule für Berufsbildung EHB. Zollikofen.
Bibliographie
- Aeschlimann, B. und J. Schweri (2024). Kein Anschluss ohne Abschluss? Durchlässigkeit zwischen Gymnasium und beruflicher Grundbildung. OBS EHB Trend im Fokus. Zollikofen: Eidgenössische Hochschule für Berufsbildung EHB.
- Beicht, U. und G. Walden (2018). Neue Bildungsexpansion und Verdrängungseffekte in der betrieblichen Ausbildung. Sozialer Fortschritt: Unabhängige Zeitschrift für Sozialpolitik, 67(3), 141–172.
- Bundesrat (2025). Chancen eines erfolgreichen Übertritts vom Gymnasium in die berufliche Grundbildung erhöhen. Bericht des Bundesrats in Erfüllung des Postulats 23.3663 Gutjahr vom 13.06.2023.
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- Schweri, J. und B. Aeschlimann (2025). Gutachten. Mögliche Auswirkungen einer Förderung der horizontalen Durchlässigkeit auf Sekundarstufe II. Eidgenössische Hochschule für Berufsbildung EHB. Zollikofen.
Zitiervorschlag: Aeschlimann, Belinda; Schweri, Jürg (2025). Einfacher vom Gymnasium in die Berufsbildung? Die Volkswirtschaft, 30. September.