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Chancenreiche Schweiz

Nur 15 Prozent der Einkommensunterschiede lassen sich mit der familiären Herkunft erklären. Eine neue Analyse zeigt: Die Schweiz ist eine durchlässige Gesellschaft.
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Die Familie prägt. Den späteren Lebensweg beeinflusst sie jedoch weniger, als man gemeinhin denkt. Die Familie Seaver aus der US-amerikanischen Sitcom «Unser lautes Heim». (Bild: Keystone)

«Faber est suae quisque fortunae» – jeder ist seines Glückes Schmied. Das zumindest postuliert ein altes lateinisches Sprichwort. Doch wie viel Einfluss haben persönliche Entscheidungen effektiv auf unseren Werdegang? Ist Erfolg das Ergebnis von Talent, Können und Effort, oder spielt die familiäre Abstammung die ausschlaggebende Rolle? In einer liberalen Gesellschaft wie der Schweiz, die per Verfassung[1] auf Chancengleichheit setzt, ist es entscheidend, zu verstehen, inwiefern der familiäre Hintergrund die Aufstiegschancen und Abstiegsrisiken prägt. Konkret: Die Chancengleichheit ist intakt, wenn Aufstieg vor allem durch individuelle Leistung und nicht durch familiäre Herkunft bestimmt wird.

Erfolgsschmiede Familie?

Wie stark der familiäre Hintergrund die eigenen Erfolgschancen bestimmt, misst man in der Ökonomie mit dem Konzept der «sozialen Mobilität».[2] Traditionell vergleicht man dabei den Status der Eltern mit dem ihrer Kinder in einem bestimmten Alter. Status entspricht dabei meist dem Einkommen[3] – man spricht folglich von Einkommensmobilität.

Für die Schweiz zeigt sich diesbezüglich ein erfreulicheres Bild: Die Einkommensmobilität ist deutlich höher als in den USA, und selbst im Vergleich zu den skandinavischen Ländern ist sie überdurchschnittlich. Mit einer Eltern-Kind-Korrelation von nur 0,14 zeigt die Schweiz eine bemerkenswerte Durchlässigkeit in Bezug auf das Einkommen.[4] Dieser Wert bedeutet: Kinder, die aus einer Familie der niedrigsten Einkommensstufe stammen (Rang 1), liegen im Schnitt nur 14 Stufen tiefer als Kinder mit Eltern aus der höchsten Einkommensstufe (Rang 100). Zum Vergleich: In den USA[5] beträgt dieser Unterschied 34 Ränge, in Deutschland[6] sind es 32, in Frankreich[7] 30, in Dänemark[8] hingegen nur deren 20.

Jenseits der Eltern-Kind-Beziehungen

Im Gegensatz zu diesem vertikalen Ansatz, der Eltern und Kinder vergleicht, misst der horizontale Ansatz den familiären Einfluss mittels Geschwisterähnlichkeiten.[9] Dieser Ansatz ist umfassender, denn Geschwister teilen nicht nur die elterlichen Ressourcen, sondern auch eine Vielzahl anderer Lebensumstände: Sie wachsen in der gleichen Nachbarschaft auf, besuchen dieselbe Schule, teilen ähnliche Freizeitaktivitäten oder bewegen sich in denselben sozialen Netzwerken. Der renommierte Ökonom und Pionier der Mobilitätsforschung Gary Solon beschrieb wohl nicht zuletzt deshalb bereits im Jahr 1999 die Ähnlichkeit zwischen Geschwistern als Mysterium, das erforscht werden müsse.[10] Denn: Geschwisterähnlichkeiten zeigen, wie stark das familiäre Umfeld den Lebensweg beeinflusst.

Ein Beispiel sind die drei Kennedy-Brüder – John Fitzgerald, Robert und Edward. Sie alle entstammten dem gleichen einflussreichen Elternhaus und legten allesamt beeindruckende Karrieren an den Tag: John F. Kennedy wurde 1960 zum US-Präsidenten gewählt, Robert und Edward amtierten für die Demokratische Partei im US-Senat.

Was prägte diese Ähnlichkeit im Werdegang der Kennedy-Brüder? War es das grosse Beziehungsnetzwerk der ganzen Kennedy-Familie, das den Brüdern die Türen öffnete? Oder spielte doch Familienpatron und Diplomat Joseph Kennedy die entscheidende Rolle, indem er gezielt Ressourcen nutzte, um den Erfolg seiner Söhne zu sichern? Oder aber war es das aussergewöhnliche politische Talent der Gebrüder selbst, das ihnen zum Durchbruch verhalf? Die ersten beiden Fälle sprächen gegen, letzterer Fall für eine durchlässige Gesellschaft. Am Ende dürfte der Erfolg der Kennedy-Brüder das Ergebnis eines Zusammenspiels von familiärem Einfluss und individuellem Können gewesen sein. Um die gesellschaftliche Durchlässigkeit zu bestimmen, gilt es diese Komposition aufzuschlüsseln.

Geringe familiäre Prägung in der Schweiz

Die mittels Geschwisterkorrelationen gemessenen familiären Einflüsse sind deshalb umfassender und somit auch grösser als die reine Eltern-Kind-Betrachtung. Der Geschwisteransatz ermöglicht die Erfassung der totalen familiären Prägung. Während diese in den USA[11] hohe 49 Prozent ausmacht, sind es in Deutschland[12] immerhin noch 43 Prozent, in Frankreich[13] 29 Prozent und in Dänemark[14] 20 Prozent. Diese Werte geben Auskunft darüber, welcher Teil der Einkommensunterschiede auf den familiären Hintergrund zurückzuführen ist.

In unserer Studie[15] wollten wir diese umfassende familiäre Prägung, gemessen über Geschwisterähnlichkeiten, auch für die Schweiz erfassen (siehe Kasten). Die Ergebnisse sind ebenso aufschlussreich wie ermutigend: Der gesamte familiäre Hintergrund erklärt in der Schweiz nur etwa 15 Prozent der totalen Einkommensunterschiede. Dies weist auf eine hohe gesellschaftliche Durchlässigkeit hin und hebt die Bedeutung persönlicher Entscheidungen und Anstrengungen für den sozialen Status hervor. Im internationalen Vergleich reiht dieser Befund die Schweiz somit wie auch beim Eltern-Kind-Ansatz noch vor den skandinavischen Ländern ein, die für ihre hohe soziale Mobilität bekannt sind.

Die Treiber bleiben rätselhaft

Die bisherigen Ergebnisse zeigen deutlich: Die soziale Durchlässigkeit scheint in der Schweiz wenig von der Familienzugehörigkeit beeinflusst zu werden. Nichtsdestotrotz erklärt die Familie gemäss dem Geschwisteransatz auch in der Schweiz knapp ein Sechstel der gesamten Einkommensunterschiede. Doch welcher familiäre Faktor hat am meisten Einfluss? Sind es die gemeinhin angenommenen Treiber wie das elterliche Einkommen, die Nationalität, der Zivilstand der Eltern oder der Wohnort? Auch diese Frage haben wir untersucht.

Überraschend: Keiner dieser Faktoren hat in der Schweiz eine gewichtige Erklärungskraft am familiären Einfluss. Die Resultate legen also nahe, dass hierzulande keine Anzeichen für gravierende Diskriminierung bestehen. So ist das Einkommen der Eltern für lediglich rund 6 Prozent des gesamten Einflusses verantwortlich.[16] Auch die Nationalität, der Zivilstand oder der Wohnort der Eltern spielen keine massgebliche Rolle. Insgesamt erklären die vier familiären Faktoren weniger als 10 Prozent des gesamten familiären Effekts. Der Grossteil des Effekts bleibt somit unerklärt (siehe Abbildung).

Der familiäre Einfluss bleibt mehrheitlich unerklärt

Quelle: Eigene Darstellung der Autoren basierend auf Bühler et al. (2024) / Die Volkswirtschaft

 

Diese Erkenntnisse werfen ein neues Licht auf das «Mysterium des Erfolgs». Es bleibt zwar weiterhin ein Rätsel, welche spezifischen Faktoren den familiären Effekt in der Schweiz tatsächlich antreiben. Doch diese Unklarheit ist keineswegs eine ernüchternde Erkenntnis. Im Gegenteil: In einer chancenreichen Gesellschaft sollten die deterministischen und damit diskriminierenden Treiber kaum einen Einfluss auf den individuellen Erfolg haben – und in der Schweiz ist dies der Fall.

Mit anderen Worten: Wären die Kennedy-Brüder in den Schweizer Alpen statt in Massachusetts aufgewachsen, hätten sie vermutlich auch hierzulande für politische Furore gesorgt – allerdings weniger aufgrund ihrer Herkunft und Startvorteile, sondern vor allem durch ihr Polittalent.

  1. Art. 2 Abs. 3 BV[]
  2. Siehe Berthold und Gründler (2018). []
  3. Siehe Black and Devereux (2011) oder Solon (2018) für eine Übersicht über die bisherigen Forschungsergebnisse. []
  4. Siehe Chuard und Grassi (2020). []
  5. Siehe Chetty et al. (2014). []
  6. Siehe Dodin et al. (2024). []
  7. Siehe Kenedi und Sirugue (2023). []
  8. Siehe Helsø (2021). []
  9. Siehe Björklund und Jäntti (2020). []
  10. Siehe Solon (1999). []
  11. Siehe Mazumder (2008). []
  12. Siehe Schnitzlein (2014). []
  13. Siehe Comi (2010). []
  14. Siehe Schnitzlein (2014). []
  15. Siehe Bühler et al. (2024). []
  16. Internationale Vergleiche zeigen diesbezüglich höhere Erklärungswerte: Studien aus den USA (Mazumder, 2008) und Schweden (Hällsten und Thaning, 2022) deuten darauf hin, dass das elterliche Einkommen allein etwa 36 Prozent respektive 27 Prozent der Geschwisterkorrelation erklären kann. []

Literaturverzeichnis

Bibliographie

Zitiervorschlag: Schaltegger, Christoph A.; Häner-Müller, Melanie; Bühler, Jonas (2024). Chancenreiche Schweiz. Die Volkswirtschaft, 06. Dezember.

Die Studie im Detail

Basis unserer Analyse ist ein detaillierter Administrativdatensatz des Bundes, der über 1,1 Millionen Personen umfasst und insgesamt anonymisierte Einkommensdaten von 23 Geburtskohorten (1966–1988) aus der AHV-Statistik enthält. Die Daten erlauben es, familiäre und individuelle Effekte präzise zu trennen, da sich über die Volkszählungsdaten des Bundes (Statpop) Geschwister und deren Eltern verknüpfen lassen. Mittels Geschwisterkorrelationen lässt sich in einem ersten Schritt bestimmen, welcher Teil der totalen Einkommensunterschiede auf die familiäre Zugehörigkeit zurückgeführt werden kann. In einem zweiten Schritt können mögliche Einflussfaktoren des familiären Effekts getestet werden.