Das BIP aus dem Weltall messen

Heller oder dunkler? Aus dem All die Lichtintensität messen und sehen, ob das BIP wächst. Die japanische Hauptstadt Tokio bei Nacht. (Bild: Keystone)
In den Medien wurde Mitte Januar 2025 berichtet, das Bruttoinlandprodukt (BIP) der Volksrepublik China sei im letzten Jahr real um 5 Prozent gewachsen. Die chinesischen Behörden betonten, dies entspreche genau den Voraussagen von Partei und Regierung. Die meisten Berichte in unserer Presse waren skeptisch. Ein so hohes Wirtschaftswachstum sei kaum zu erwarten, denn in China sei die Konjunktur in einem schlechten Zustand: So habe die Immobilienbranche mit riesigen Problemen zu kämpfen, und viele Universitätsabgänger fänden keine Stelle. Es gibt Evidenz für viele Länder, dass die Grösse des BIP immer wieder manipuliert wird. Autoritäre Staatsformen weisen häufiger manipulierte Daten aus, hingegen wirkt ein höheres Handelsvolumen systematisch dagegen.[1] Es spielen auch individuelle Anreize eine Rolle. So ist die Karriere regionaler Politiker davon abhängig, ob die von der Regierung erwartete Wirtschaftsleistung erreicht wird[2].
Das Bruttoinlandprodukt als Kompromiss
Das BIP ist eine komplexe Aggregation unterschiedlicher Tätigkeiten und Bereiche. Nach dem Zweiten Weltkrieg haben die (spätere) Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) und dann auch die Vereinten Nationen (UNO) als Standard festgelegt, was eine produktive wirtschaftlichen Aktivität ist. Diese Definition wurde inzwischen von allen Staaten übernommen. Allerdings mussten dabei einige wichtige Kompromisse geschlossen werden.
Erstens wird Haushaltstätigkeit wie Hausarbeit oder die Betreuung von Familienangehörigen nicht als Teil des BIP ausgewiesen, weil es zu schwierig ist, sie zu erfassen und zu bewerten. Diese Tätigkeit nimmt jedoch in einer Gesellschaft einen grossen Teil der menschlichen Aktivität ein und fällt laut Definition seltsamerweise in die Kategorie Schattenwirtschaft.
Zweitens wird die Staatstätigkeit, insofern sie Ressourcen in Anspruch nimmt, durchwegs als produktiver Beitrag zur wirtschaftlichen Aktivität angesehen. Dies ist jedoch häufig nicht der Fall. Ein erheblicher Teil der staatlichen Tätigkeit führt nicht zu einer höheren Produktivität, sondern senkt sie im Extremfall sogar, wenn der Staatseingriff produktivere privatwirtschaftliche Aktivitäten verdrängt. In diese Kategorie würden beispielhaft Militärausgaben fallen.
Drittens wird informelle Aktivität in der Schattenwirtschaft wie Strassenverkauf, Schwarzarbeit oder illegale Geschäfte nicht berücksichtigt, obwohl sie in vielen Ländern von grosser Bedeutung ist.[3] Einige statistische Ämter nehmen dafür Schätzungen vor und rechnen diese ins BIP mit ein, aber es bleibt unklar und über Länder inkonsistent, welcher Anteil jeweils berücksichtigt wird.
Diese grundsätzlichen Probleme der statistischen Erfassung des BIP führen zu Inkonsistenzen und bieten Möglichkeiten, deren Höhe zu manipulieren, ohne dass dies offensichtlich wird. Dies führt zu einem verzerrten Bild des Zustands der Wirtschaft und der Gesellschaft. Selbstverständlich gibt es Massnahmen, die dieser Manipulation entgegenwirken sollten. Erhöhte Handelsverflechtungen führen zu mehr Informationen für Handelspartner, und internationale Organisationen wie die Weltbank oder die OECD überprüfen die jeweiligen nationalen wirtschaftlichen Angaben. Dies scheint aber nur bedingt erfolgreich.
BIP durch Lichthelligkeit messen
Ein völlig anderer Ansatz zur Erfassung der aggregierten wirtschaftlichen Aktivität besteht in der dadurch erzeugten Lichthelligkeit in der Nacht. Diese Daten werden durch Satelliten erfasst und von der US-amerikanischen Nationalen Aeronautik- und Raumfahrtbehörde (Nasa) erhoben und bereitgestellt. Wetterverhältnisse, insbesondere die Wolken- und Nebelbildung, werden dabei berücksichtigt. Die Satelliten arbeiten mit Infrarotfrequenzen, die auch Wolken erkennbar machen. Sorgfältige Analysen bestätigen, dass die Nachthelligkeit eng und systematisch mit dem BIP korreliert.[4] Aber auch ohne BIP als Ankergrösse ist es möglich, die Wirtschaftskraft zu messen. Denn es geht um Veränderungen, also um Wachstum oder Schrumpfung. Diese relativen Anstiege oder Rückgänge eignen sich somit gut, um Entwicklungen zu untersuchen, unabhängig vom absoluten Niveau.
Diesem Messansatz werden gegenüber der konventionellen Messung drei wesentliche Vorteile zugeschrieben. Erstens sind in manchen Ländern, insbesondere solchen mit geringer staatlicher Kapazität, die Möglichkeiten zur Messung des BIP mittels der herkömmlichen Methode beschränkt. Sie beruhen deshalb eher auf oberflächlichen Schätzungen als auf umfassenden, repräsentativen Umfragen bei den vielen kleinen und Kleinstunternehmen oder auch in Randregionen. Die Messung mittels Satelliten erlaubt eine weit kostengünstigere Erfassung des regionalen und lokalen BIP. Der zweite grosse Vorteil des Nachtlichtansatzes ist die rasche, unmittelbare Verfügbarkeit der Daten. Drittens ist die mittels Satelliten erfasste menschliche Aktivität nicht von den nationalen statistischen Bundesämtern und lokalen politischen Einflüssen abhängig.
Auch Nachtlicht ist nicht unfehlbar
Dagegen wird argumentiert, die nächtliche Lichtmessung sei bestenfalls eine nützliche Annäherung und keine präzise Messung der gesamtwirtschaftlichen Aktivität.[5] In der Tat besteht die Gefahr von Doppelzählungen, weil auch die Verwendung des BIP – insbesondere der Konsum, aber auch die Investitionen – zu Lichtabstrahlungen führt, was das BIP aufbläht. Weitere Probleme der Nachtlichtintensität beziehen sich auf Schneereflektionen, Zeitumstellungen oder auf Aktivitäten, die unter Tage oder ausschliesslich tagsüber stattfinden. Eine Manipulation durch Regierungen wird zwar erschwert, weil sie die nächtliche Lichthelligkeit nicht selbst erfassen. Jedoch haben sie die Möglichkeit, die von ihrem Land erzeugte Lichtabstrahlung zu beeinflussen.
Einige arme Staaten versuchen das ausgewiesene BIP möglichst klein erscheinen zu lassen, damit sie von internationalen Institutionen wie der Weltbank grosszügig unterstützt werden. Dies geschieht nicht etwa über die Zerstörung von Produktionsstätten, sondern über passend gemachte Zahlen des jeweiligen statistischen Amts. Im Falle der Nachtlichtintensität als Bemessungsgrundlage können sie dies erreichen, indem sie zum Beispiel die Strassenbeleuchtung minimieren. In der Regel versuchen autoritäre Regierungen hingegen ihre Wirtschaftsmacht möglichst gross auszuweisen, um ihrer Bevölkerung und anderen Ländern ihre Fähigkeit zur Wirtschaftspolitik zu illustrieren. Dazu können zum Beispiel Sportanlagen wie Fussballfelder die ganze Nacht beleuchtet werden. Allerdings sind die Möglichkeiten zur Manipulation kostenintensiver als bei der herkömmlichen Messung. Mithilfe von Methoden der künstlichen Intelligenz können manche dieser Manipulationen erfasst und korrigiert werden.
Die mit Satelliten erfasste Grösse des Bruttoinlandprodukts stellt folglich eine gute Möglichkeit dar, die Diskrepanzen zu offiziellen BIP-Statistiken zu ermitteln.[6] Unter anderem können mit der Nachtlichtmethode Regionen wie der Bodenseeraum oder Alpenregionen, die Gemeindegrenzen überschreiten oder durch Gemeindefusionen nicht mehr existieren, untersucht werden. Die Messung aus dem All bietet somit noch viel Potenzial, ökonomische Entwicklungen – unabhängig von festgelegten statistischen Grenzen – problemorientierter zu untersuchen. Die erwähnten Probleme im Zusammenhang mit der Erfassung der Schattenwirtschaft können so teilweise überwunden werden – diese dürfte in vielen Ländern erheblich sein und möglicherweise sogar stetig zunehmen. Die Nachtlichtmethode sollte nur als sinnvolle Ergänzung und sicherlich nicht als Ersatz für die herkömmliche Methode zur Erfassung der aggregierten wirtschaftlichen Aktivität angesehen werden. Sie sollte auch in der Schweiz vermehrt verwendet werden.
Literaturverzeichnis
- Briviba, A. et al. (2024). Governments Manipulate Official Statistics: Institutions Matter. European Journal of Political Economy, 82, 102523.
- Chen, S., Qiao, X., und Z. Zhu (2021). Chasing or Cheating? Theory and Evidence on China’s GDP Manipulation. Journal of Economic Behavior & Organization, 189, 657–671.
- Gibson, J., Olivia, S., und G. Boe-Gibson (2020). Night Lights in Economics: Sources and Uses. Journal of Economic Surveys, 34(5), 955–980.
- Lehnert, P. et al. (2023). Proxying Economic Activity with Daytime Satellite Imagery: Filling Data Gaps Across Time and Space. PNAS Nexus, 2(4).
- Martínez, L. R. (2022). How Much Should We Trust the Dictator’s GDP Growth Estimates? Journal of Political Economy, 130(10), 2731–2769.
- Schneider, M. F., und D. Enste (2002). Hiding in the Shadows: the Growth of the Underground Economy. International Monetary Fund.
Bibliographie
- Briviba, A. et al. (2024). Governments Manipulate Official Statistics: Institutions Matter. European Journal of Political Economy, 82, 102523.
- Chen, S., Qiao, X., und Z. Zhu (2021). Chasing or Cheating? Theory and Evidence on China’s GDP Manipulation. Journal of Economic Behavior & Organization, 189, 657–671.
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- Schneider, M. F., und D. Enste (2002). Hiding in the Shadows: the Growth of the Underground Economy. International Monetary Fund.
Zitiervorschlag: Frey, Bruno S.; Briviba, Andre (2025). Das BIP aus dem Weltall messen. Die Volkswirtschaft, 15. Mai.