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«Das ist ein entscheidender Moment in unserer bilateralen Beziehung»

Die Schweiz und die EU handelten jüngst ein neues Vertragspaket aus. Dieses bilde den allgemeinen Rahmen der bilateralen Beziehungen zwischen Frankreich und der Schweiz, sagt die französische Botschafterin Marion Paradas im Interview. Sie spricht ausserdem über die Bedeutung der Grenzgänger und die Stärken Frankreichs angesichts der aktuellen globalen Veränderungen.
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Marion Paradas, französische Botschafterin in der Schweiz und in Liechtenstein, in der Botschaft in Bern: «In der Schweiz lebt die grösste Gemeinschaft von Auslandfranzösinnen und -fran­zosen.» (Bild: Keystone / Christian Beutler)
Frau Botschafterin, wie steht es um die Beziehungen zwischen der Schweiz und Frankreich?

Die Beziehungen sind heute sehr harmonisch, vor allem dank des Abschlusses der Verhandlungen mit der Europäischen Union. Als ich vor zwei Jahren nach Bern kam, waren die Verhandlungen auf europäischer Ebene unterbrochen. Kurz zuvor hatte die Schweiz einen Vertrag zum Kauf von Kampfflugzeugen aus den USA abgeschlossen. Der Besuch von Präsident Macron im November 2023  verdeutlichte den Wunsch, die Freundschaft zwischen unseren beiden Ländern wiederzubeleben, zu stärken und inhaltlich zu erneuern.

Die politischen Beziehungen sind freundschaftlich. Wie sieht es mit den wirtschaftlichen aus?

Der bilaterale Warenhandel ist mit einem Volumen zwischen 37 und 40 Milliarden Euro pro Jahr umfangreich. Die Schweiz ist der zweitgrösste ausländische Investor und – mit rund 300’000 geschaffenen Arbeitsplätzen – der drittgrösste ausländische Arbeitgeber in Frankreich. Ausserdem steht sie bezüglich Tourismuseinnahmen in Frankreich auf Platz vier in der Länderrangliste. In der Schweiz lebt die grösste Gemeinschaft von Auslandfranzösinnen und -fran­zosen, und rund 1300 Niederlassungen französischer Unternehmen sind hier. Die Wertschöpfungsketten sind eng verflochten, insbesondere in den Bereichen Pharmazie, Schmuck und Chemie.

In welchen Sektoren könnte die wirtschaftliche Zusammenarbeit noch verstärkt werden?

Insbesondere im Bereich Innovation. Die äusserst engen Beziehungen zwischen den Universitäten und Technischen Hochschulen der Schweiz einerseits sowie den französischen Einrichtungen andererseits werden sich weiter vertiefen, insbesondere in Bereichen wie Raumfahrt, künstliche Intelligenz und Quantentechnologie sowie im Energiesektor. Dort unterstützen wir die Kooperationsbemühungen vor allem im Atomenergiesegment.

Sie sagten bereits, dass die Direktinvestitionen zwischen den beiden Ländern sehr hoch sind. Woran liegt das?

Frankreich ist ein Markt mit 70 Millionen Menschen und ein Tor zur Europäischen Union. Ausserdem fördert unser Land Innovationen mit sogenannten Wettbewerbsclustern, die Unternehmen und Ausbildungszentren miteinander verbinden. Wir bilden Talente aus, darunter insbesondere Ingenieurinnen und Ingenieure, von denen auch Schweizer Unternehmen in Frankreich profitieren. Wirtschaftsraum, Bevölkerung, Innovationen und Talente – das sind allesamt Vorteile, die Schweizer Firmen zu Investitionen in Frankreich bewegen.

Frankreich ist ein Markt mit 70 Millionen Menschen und ein Tor zur Europäischen Union.

Investieren französische Unternehmen aus denselben Gründen in der Schweiz? 2023 war Frankreich der sechstgrösste Direktinvestor.

Die 1300 Niederlassungen französischer Unternehmen in der Schweiz bieten rund 80’000 direkte Arbeitsplätze. In einigen Sektoren ist es für französische Unternehmen jedoch schwieriger, Fuss zu fassen. Dies gilt insbesondere für den Agrar- und Lebensmittelmarkt sowie den Dienstleistungsbereich. Kürzlich wurde mit der EU ein Vertragspaket ausgehandelt, das vor dem Sommer in die Vernehmlassung gehen soll – das wird in diesen Bereichen sicherlich neue Möglichkeiten eröffnen.

Profitieren auch Schweizer Unternehmen vom «Plan France 2030», dem 2021 von der französischen Regierung initiierten Investitionsprogramm zur Dekarbonisierung der Wirtschaft und zur Förderung umweltfreundlicher Innovationen?

Der «Plan France 2030» schafft Anreize für Schweizer Unternehmen, sich in Frankreich niederzulassen. Wir ermutigen sie dazu, an Ausschreibungen zu Zukunftstechnologien, erneuerbaren Energien, Atomenergie, Gesundheit sowie pharmazeutischer Industrie teilzunehmen. Von den insgesamt 54 Milliarden Euro, die für diesen Plan vorgesehen sind, stehen noch 15 Milliarden Euro für neue Projekte zur Verfügung. Schweizer Unternehmen haben sich bereits daran beteiligt.

 

Marion Paradas: «Insgesamt tragen Tag für Tag rund 500’000 Französinnen und Franzosen zum Schweizer Wohlstand bei.» (Bild: Keystone / Christian Beutler)
Wie würden Sie die direkten nachbarschaftlichen Beziehungen entlang unserer fast 600 Kilometer langen gemeinsamen Grenze bezeichnen?

Es ist ein grosser Gewinn, eine gemeinsame Grenze zu haben. Neben sprachlichen und kulturellen Gemeinsamkeiten gibt es auch viele familiäre Verbindungen. Die beiden Regionen sind miteinander verflochten. Allein in der Romandie leben mehr als 240’000 Französinnen und Franzosen. In der Deutschschweiz wächst die Zahl der französischen Staatsangehörigen, vor allem rund um die Wirtschaftszentren Basel und Zürich. Da sind die etwa 236’000 französischen Grenzgängerinnen und Grenzgänger noch gar nicht eingerechnet. Insgesamt tragen Tag für Tag rund 500’000 Französinnen und Franzosen zum Schweizer Wohlstand bei. Auch wirtschaftlich ist die gemeinsame Grenze bedeutend: Fast die Hälfte des bilateralen Handels zwischen den beiden Ländern wird in den Grenzregionen abgewickelt. Eine meiner Prioritäten als französische Botschafterin in der Schweiz ist es, diese grenzüberschreitenden Beziehungen weiter zu stärken. Denn sie sind das Fundament der engen Partnerschaft zwischen unseren beiden Ländern.

Bereitet der Grenzgängerstrom aus Frankreich in die Schweiz auch Schwierigkeiten?

Die hohe Zahl an Grenzgängerinnen und Grenzgängern führt in bestimmten Regionen zu Herausforderungen. Besonders betroffen sind Randgebiete von attraktiven Wirtschaftszentren wie Genf, dem Waadtland und Basel. Wir beschäftigen uns mit verschiedenen Themen, etwa der Mobilität, dem Wohnungsangebot, dem sozialen Gefälle und dem Arbeitskräftemangel, der sich vor allem auf den Gesundheitssektor in den Départements Haute-Savoie, Ain und Haut-Rhin auswirkt. Ein weiteres heikles Thema ist derzeit die Arbeitslosenentschädigung für französische Grenzgängerinnen und Grenzgänger. Diese Leistungen belasten den französischen Haushalt stark. Wir versuchen, hierfür auf europäischer Ebene eine Lösung zu finden.

Dank dem «Abkommen über die Ausübung unselbstständiger Arbeit im Homeoffice» aus dem Jahr 2023 dürfen Grenzgängerinnen und Grenzgänger bis zu 40 Prozent ihrer Arbeitszeit im Homeoffice arbeiten. Hat sich das auf die Grenzgängerzahlen ausgewirkt?

Das Abkommen ist eine sehr pragmatische Lösung und ein Beispiel für die gute Zusammenarbeit zwischen Frankreich und der Schweiz. Es hat den Arbeitskomfort in einigen Berufen verbessert. Hinweise darauf, dass sich das Abkommen auf die Zahl der Grenzgängerinnen und Grenzgänger ausgewirkt haben könnte, gibt es aber nicht. Bei diversen Berufen im Handel oder im Dienstleistungssektor ist Homeoffice nicht möglich.

Blicken wir über die Romandie hinaus: Wie lassen sich die Beziehungen zwischen Frankreich und der Deutschschweiz stärken?

Die Vertiefung der Beziehungen zur Deutschschweiz ist eine wirtschaftliche und politische Priorität. Viele Unternehmen, die in Frankreich investiert haben, kommen aus der Deutschschweiz. Das zeigt, wie dynamisch diese Region ist. Unsere gemeinsame Grenze mit den Kantonen Basel-Stadt und Basel-Landschaft prägt auch die Beziehungen zur übrigen Deutschschweiz. Ein starkes Zeichen unserer Präsenz in der Deutschschweiz ist die Wirtschaftsförderungsagentur Business France, die sich in Zürich niedergelassen hat. In Zürich gibt es übrigens auch ein französisches Gymnasium.

Die Schweiz ist kein EU-Mitglied. Beeinflusst das die Handelsbeziehungen zwischen Frankreich und der Schweiz?

Frankreich hofft sehr, dass die neuen Abkommen, die im Dezember letzten Jahres mit der Europäischen Union abgeschlossen wurden, von der Schweizer Bevölkerung angenommen werden. Das ist ein entscheidender Moment in unserer bilateralen Beziehung, denn sie bilden die allgemeinen Rahmenbedingungen. Sollte sich der Zugang zum EU-Markt für die Schweiz erschweren, wird das ihre Wirtschaftsleistung beeinträchtigen. Und das hätte auch für Frankreich und die restliche EU Nachteile.

Die Weltwirtschaft befindet sich in einem tiefgreifenden Wandel. Wie widerstandsfähig ist die französische Wirtschaft vor diesem Hintergrund?

Frankreich hat in der Vergangenheit bewiesen, dass es auch in schwierigen Zeiten Widerstandskraft zeigen kann. Etwa während der Coronakrise oder des Kriegs in der Ukraine. Natürlich gibt es Herausforderungen, besonders die Entwicklung der Staatsfinanzen. Aber die Regierung arbeitet daran, und die Europäische Union gibt uns einen gemeinsamen Rahmen. Frankreich kann seine Stärken ausspielen: seinen grossen Markt und seine gut ausgebildete Bevölkerung, die jünger ist als in anderen europäischen Ländern.

Frankreich kann seine Stärken ausspielen: seinen grossen Markt und seine gut ausgebildete Bevölkerung, die jünger ist als in anderen europäischen Ländern.

Sie haben die französische Staatsverschuldung angesprochen. Diese schränkt den haushaltspolitischen Handlungsspielraum Frankreichs stark ein. An welchen Lösungen arbeitet die französische Regierung?

Die Verschuldung ist zwar sehr hoch, aber deren Höhe ist bekannt. Frankreich hat keine Probleme, sich an den internationalen Märkten zu finanzieren. Premierminister François Bayrou hat angekündigt, 40 Milliarden Euro einsparen zu wollen. Das erfordert gemeinsame Bemühungen. Die Regierung will mehr sparen, ohne die Wirtschaft abzuwürgen. Gleichzeitig wollen wir innovativ bleiben, denn Innovationen und ökologischer Wandel sind unsere Zukunft. Das zu steuern, ist sehr anspruchsvoll.

Frankreich ist für seine aktive Industriepolitik bekannt. Lässt sich damit die Deindustrialisierung bekämpfen?

Die Pandemie hat uns gezeigt, dass wir unsere Produktionskapazitäten zurückerlangen müssen. Daher fördern wir in- und ausländische Investitionen in strategischen Sektoren. Die Initiative «Choose France», die von Präsident Macron in seiner ersten Amtszeit ins Leben gerufen wurde, hat die industriellen Investitionen in Frankreich angekurbelt. Ähnlich wirksam waren die Instrumente zur Innovations- und Beschäftigungsförderung sowie die durchgeführten Reformen des Arbeitsrechts. Dass sich Frankreich für die Atomenergie entschieden hat, trägt ebenfalls dazu bei, die industrielle Basis des Landes zu sichern.

Die Fussball-Europameisterschaft der Frauen findet diesen Sommer in der Schweiz statt. Wie haben sich die letztjährigen Olympischen Sommerspiele in Paris auf die französische Wirtschaft ausgewirkt?

Die Erfahrungen waren sehr positiv, insbesondere im Bereich der Nachhaltigkeit. Viele Infrastruktureinrichtungen haben sich zu Lebensräumen entwickelt und werden weiterhin genutzt. Die Wettkämpfe in Paris, Versailles und anderen symbolträchtigen Orten Frankreichs auszutragen, war auch Werbung für den Tourismus. Die Auslastung in Pariser Hotels stieg im Januar 2025 um sieben Prozentpunkte.

Werden Sie die Spiele der französischen Frauen-Nationalmannschaft verfolgen?

Natürlich! Das ist ein tolles Event. Ich freue mich besonders auf die Spiele des französischen Nationalteams gegen England, Wales und die Niederlande.

Zitiervorschlag: Interview mit Marion Paradas, französische Botschafterin in der Schweiz und in Liechtenstein (2025). «Das ist ein entscheidender Moment in unserer bilateralen Beziehung». Die Volkswirtschaft, 12. Mai.

Marion Paradas

Marion Paradas (64) ist seit August 2023 französische Botschafterin in der Schweiz und in Liechtenstein. Sie hat am Institut d’Études Politiques studiert und als Diplomatin in Afrika, im Nahen Osten und in Europa gearbeitet. Ausserdem war sie in verschiedenen Ministerien in Paris tätig. Bevor sie nach Bern kam, war sie fünf Jahre lang Vizepräsidentin für internationale Beziehungen beim französischen Thales-Konzern.