Französische Grenzgänger: Eine strukturelle Stütze des Schweizer Arbeitsmarkts

Im Jahr der Coronapandemie stellten Schweizer Unternehmen viele Grenzgänger aus Frankreich an – besonders im Gesundheits- und Sozialwesen. (Bild: Keystone)
Trotz Wirtschaftskrisen und Pandemie ist die Zahl französischer Grenzgängerinnen und Grenzgänger in den letzten zwanzig Jahren stetig gestiegen. 2004 arbeiteten rund 96’000 Personen aus Frankreich in der Schweiz, 2024 waren es über 236’000 Personen – also mehr als doppelt so viele.
Der Anstieg begann schon vor der Pandemie. Zwischen 2018 und 2019 wuchs die Zahl um 4,3%. Selbst im Coronajahr 2020 nahm sie leicht zu (+0,25 %). Danach beschleunigte sich das Wachstum deutlich: 2021 lag es bei 6,3%, 2022 bei 7,7% und in den Jahren 2023 und 2024 jeweils bei 5,3%.[1]
Wie lässt sich diese Entwicklung erklären? Welche Wechselwirkungen bestanden schon vor der Pandemie? Und warum hat sich die grenzüberschreitende Mobilität in den letzten Jahren noch verstärkt, insbesondere jene aus Frankreich?
Der institutionelle Rahmen begünstigt die grenzüberschreitende Beschäftigung
Grenzgängerinnen und Grenzgänger gab es zwar schon immer, doch bei der Bestimmung ihrer Form und ihres Ausmasses spielt der institutionelle und regulatorische Rahmen eine entscheidende Rolle. Einen wichtigen Meilenstein markierte das Abkommen über die Personenfreizügigkeit (FZA) zwischen der Schweiz und der EU, das 2002 in Kraft trat. Das bisherige Wachstum der Zahl ausländischer Arbeitskräfte lässt sich aber nicht allein durch dieses Abkommen erklären. Denn die zunehmende Mobilität von Arbeitskräften ist ein breiteres Phänomen.
Einige Jahre danach ist jedoch ein starker Anstieg des Zustroms von Arbeitnehmenden aus dem Ausland zu beobachten, in erster Linie aus dem benachbarten Frankreich. 2003 zählte die Schweiz knapp 25% ausländische Beschäftigte, von ihnen waren 39% Grenzgängerinnen und Grenzgänger, 54% von diesen kamen aus Frankreich. Mehr als zwanzig Jahre nach dem Inkrafttreten dieser Abkommen machten im Jahr 2024 die Französinnen und Franzosen 58% der grenzüberschreitenden Arbeitskräfte aus, wobei diese Zahlen derzeit stark ansteigen (siehe Abbildung).
Immer mehr Grenzgängerinnen und Grenzgänger seit 2002
INTERAKTIVE GRAFIK
Der freie Personenverkehr hat es ausländischen Arbeitskräften leichter gemacht, in der Schweiz zu arbeiten und sich niederzulassen. Heute ist es einfacher, Diplome anerkennen zu lassen, Wohneigentum zu kaufen oder die Sozialversicherungen zwischen Ländern zu koordinieren. Trotzdem entscheiden sich die meisten Grenzgängerinnen und Grenzgänger gegen einen Wohnsitz in der Schweiz. Der Grund dafür ist eine Kombination von wirtschaftlichen und geografischen Faktoren.
Einerseits bietet die Schweiz ein attraktives wirtschaftliches Umfeld: ein kontinuierlicher Anstieg der Lebensqualität, eine tiefe Arbeitslosenquote und deutlich höhere Löhne als in Frankreich. Andererseits sprechen die Wohnkosten, der Wechselkurs, aber auch ein enger Bezug zum vertrauten institutionellen Rahmen – etwa Bildung, Gesundheit, Renten, Steuerwesen – für einen Wohnsitz in Frankreich.
Für viele ist Pendeln der ideale Kompromiss: Sie verdienen in der Schweiz, bleiben aber im gewohnten sozialen, administrativen und kulturellen Umfeld. Diese Entscheidung zeigt, dass grenzüberschreitende Mobilität nicht nur wirtschaftlichen Überlegungen folgt. Oft spielen auch die biografische Kontinuität und die Vorliebe für Vertrautes eine Rolle.[2]
Günstigere makroökonomische Dynamik in der Schweiz
Die Unterschiede bei Reichtum, Löhnen und Arbeitsbedingungen zwischen Frankreich und der Schweiz sind gross – und sie werden grösser. Das erklärt, warum die Zahl der französischen Grenzgängerinnen und Grenzgänger weiterhin steigt. Ein wichtiger Indikator dafür ist das Bruttoinlandprodukt (BIP) pro Kopf bei konstanter Kaufkraftparität (KKP), das es ermöglicht, die Inflation zu neutralisieren und gleichzeitig die Lebenshaltungskosten im jeweiligen Land zu berücksichtigen. Dieser Indikator belegt einen Anstieg und dann eine langfristige Stabilisierung des Wohlstandsgefälles auf hohem Niveau. Er zeigt ebenfalls, dass die Kaufkraft jener Beschäftigten, die in der Schweiz arbeiten, gegenüber jenen mit einem französischen Salär zugenommen hat.
Zwischen 2020 und 2022 wuchs das Bruttonationaleinkommen in der Schweiz stark. Dieser weitere wichtige Indikator zeugt von einer raschen Erholung und einem nachhaltigen Anstieg des erwirtschafteten und umverteilten Wohlstands und macht die Schweiz für ausländische Arbeitskräfte noch attraktiver.
Die beiden Indikatoren belegen die Resilienz des schweizerischen Wirtschaftsmodells angesichts der Erschütterung durch die Pandemie. Die Unterschiede zwischen den Arbeitslosenquoten der beiden Wirtschaftsräume bleiben hoch und begünstigen die Migration der französischen Arbeitskräfte, die nach beruflicher Stabilität und nach Aufstiegschancen suchen. So hat sich das bereits deutliche Lohngefälle seit der Pandemie verstärkt.
Immobilienpreise und Wechselkurse sprechen für einen Wohnsitz in Frankreich
Nicht nur auf dem Arbeitsmarkt gibt es grosse Unterschiede zwischen der Schweiz und Frankreich. Auch die Immobilienpreise driften auseinander, seit der Pandemie noch deutlicher.[3] Das macht es für Grenzgängerinnen und Grenzgänger noch schwieriger, sich in der Schweiz niederzulassen – allein schon wegen der hohen Mieten oder Immobilienpreise.
Die abschreckende Wirkung wird durch die Wechselkursentwicklung noch verstärkt. Der Wechselkurs CHF-EUR wirkt sich direkt auf die Kaufkraft der Arbeitnehmenden aus, die in Frankreich wohnen und einen Lohn in Schweizer Franken erhalten. Je stärker der Franken im Vergleich zum Euro wird, desto mehr bekommen Pendlerinnen und Pendler für ihr Geld. Selbst wenn ihr Lohn in Franken gleich bleibt, steigt ihr Einkommen in Euro – und damit ihre Kaufkraft in Frankreich. Sie können sich dort mehr leisten.
Dieser Währungsvorteil kommt zum bereits bestehenden strukturellen Lohngefälle zwischen Frankreich und der Schweiz hinzu und festigt auf diese Weise die finanziellen Vorteile der Erwerbstätigkeit jenseits der Grenze sowie die nachhaltige Attraktivität des Schweizer Markts für die in Frankreich wohnenden Personen. Seit Mitte 2022 ist diese Entwicklung besonders ausgeprägt: Damals fiel der Schweizer Franken unter die Euro-Parität. Dies bestätigt den Einfluss des Wechselkurses als wichtiger struktureller Attraktivitätsfaktor der grenzüberschreitenden Beschäftigung.
Der grenzüberschreitende Arbeitsmarkt organisiert sich neu
Die sogenannte Shift-Share-Analyse hilft, das Beschäftigungswachstum besser zu verstehen, indem sie es in drei Effekte unterteilt: national, branchenspezifisch und regional. Die Analyse zeigt, warum die Zahl der französischen Grenzgänger in der Schweiz seit der Pandemie einen historischen Höchstwert erreicht hat.
So sind alle schweizerischen Grenzregionen seit 2020 attraktiver geworden: Der regionale Effekt – also der Indikator für die spezifische Dynamik einer bestimmten Region – fiel in allen Kantonen positiv aus. Vor der Pandemie (2011–2019) gab es noch deutliche Unterschiede zwischen den Regionen. Das bedeutet, dass sich das Wachstum der grenzüberschreitenden Beschäftigung nicht nur durch die nationale Konjunktur oder die erfolgreichen Wirtschaftssektoren erklären lässt, sondern auch mit lokalen Faktoren. Dazu gehören etwa die Erreichbarkeit und die Verankerung des Grenzmarkts in der jeweiligen kantonalen Politik. Diese Entwicklung deutet auf die Entstehung einer neuen Geografie der grenzüberschreitenden Beschäftigung hin.
Diese Dynamik ist untrennbar mit einer ausgeprägten sektoriellen Neuordnung verbunden. In den Jahren nach der Coronapandemie haben sich einige tertiäre Sektoren besonders positiv entwickelt und sind zu wichtigen Wachstumstreibern geworden: Gesundheits- und Sozialwesen, Unternehmensdienstleistungen (Recht, Beratung, Technik) oder auch Hotellerie-Restauration. Diese Branchen weisen in zahlreichen Kantonen positive branchenspezifische Effekte auf, was ihre wachsende Bedeutung innerhalb der strukturellen Bedürfnisse der Schweizer Wirtschaft belegt.[4]
Im Jahr 2020 stieg die Beschäftigung von Grenzgängerinnen und Grenzgängern mitten in der Coronapandemie. Allein im Gesundheits- und Sozialwesen wurden über 1200 Personen zusätzlich angestellt. Das zeigt, wie stark das Schweizer System von diesen Arbeitskräften abhängig ist. Im Gegensatz dazu haben traditionelle Sektoren wie der Bergbau oder der Primärsektor Mühe, Schritt zu halten. Sie weisen insgesamt schwache oder negative branchenspezifische Effekte auf. Diese zunehmende Diskrepanz zwischen der traditionellen Produktionsstruktur in bestimmten Kantonen und dem neuen Qualifikationsbedarf spiegelt den Wandel in der Schweizer Wirtschaft wider.
Arbeitskräfte aus dem grenznahen Ausland als Wachstumskomponente
Auch auf regionaler Ebene verändert sich der Arbeitsmarkt. Die Analyse macht unterschiedliche Verläufe in den Kantonen deutlich. Seit der Pandemie bleibt Genf in allen Sektoren sehr attraktiv – sogar in Bereichen, die negative branchenspezifische Effekte aufweisen, wie dem Baugewerbe oder der verarbeitenden Industrie. Der regionale Effekt in Genf bleibt eindeutig positiv. Das zeigt, dass die Region in der Lage ist, grenzüberschreitende Arbeitnehmende anzuziehen, auch wenn die konjunkturellen Bedingungen in bestimmten Branchen eher negativ sind. Das gilt besonders für qualifizierte Positionen etwa in den Bereichen Information (ICT) und spezialisierte Dienstleistungen. Dieses Phänomen lässt darauf schliessen, dass die Genfer Grenzgänger immer mehr qualifizierte Berufsprofile aufweisen, die der Struktur der lokalen arbeitenden Bevölkerung entsprechen.
Andere Kantone wie die Waadt weisen eine gemässigtere Dynamik auf: Die regionalen Effekte fallen hier weiterhin positiv aus, doch die branchenspezifischen Effekte beginnen nachzulassen, wahrscheinlich wegen der Sättigung bestimmter Tertiärsektoren. Im Gegensatz dazu zeichnen sich die Kantone Jura und Neuenburg trotz einer manchmal weniger günstigen branchenspezifischen Spezialisierung mit sehr positiven regionalen Effekten aus. Das scheint auf eine effiziente territoriale Strategie zurückzuführen zu sein – eine Kombination aus erschwinglichem Wohnraum, hoher Lebensqualität und starker grenzüberschreitender Verankerung. Kantone wie beispielsweise Basel-Stadt verkörpern das andere Extrem: eine relativ schwächere Entwicklung der Grenzgängerbeschäftigung, was mit einer branchenspezifischen Repositionierung und einer verschärften regionalen Konkurrenz zusammenhängt.
In der Westschweiz ist diese Neuordnung besonders ausgeprägt. Grenzgängerinnen und Grenzgänger spielen nun eine zentrale Rolle im Beschäftigungswachstum in den meisten Sektoren und unterstreichen damit ihre mittlerweile strukturelle Rolle für das Funktionieren des schweizerischen Arbeitsmarkts. Seit der Pandemie sind sie nicht mehr nur eine schnelle Lösung für Engpässe, sondern tragen langfristig zum Wirtschaftswachstum in strategisch wichtigen Bereichen bei.
Die Shift-Share-Analyse offenbart, was in den globalen Zahlen verborgen bleibt: die stillschweigende, aber entscheidende Veränderung der Rolle der französischen Grenzgänger in der aktuellen wirtschaftlichen Dynamik, sowohl in den jeweiligen Sektoren als auch in den verschiedenen Regionen.
- Gemäss den Daten des Bundesamts für Statistik (BFS) und der Erwerbstätigenstatistik (ETS). []
- Der vorliegende Artikel fokussiert auf die wirtschaftlichen und geografischen Faktoren, die der Entscheidung zugunsten des Grenzgänger-Status zugrunde liegen. Dennoch würde das Verständnis dieser Dynamik davon profitieren, auch die Präferenzen für ein vertrautes institutionelles Umfeld, territoriale Verbundenheit und sozialen Dispositionen (im Sinne von Bourdieu) einzubeziehen, die eine strukturierende Rolle in den Wohn- und Berufslaufbahnen spielen. []
- Siehe OECD, Real House Index) []
- Das Gesundheits- und Sozialwesen verzeichnet in mehreren Kantonen positive branchenspezifische Effekte, insbesondere in Genf, Jura und Neuenburg. Angesichts der alternden Bevölkerung, des Mangels an Pflegekräften und der Situation nach Corona belegt dies ein verstärktes strukturelles Bedürfnis. Analog dazu tragen die Unternehmensdienstleistungen im juristischen Bereich, in Beratung und Technik wesentlich zur grenzüberschreitenden Dynamik bei. Dies vor allem in Genf und Neuenburg. Das hängt mit dem verstärkten Outsourcing und der Tertiärisierung der schweizerischen Wirtschaft zusammen. Der Sektor Hotellerie-Restauration sticht ebenfalls heraus, da nach der Pandemie die Nachfrage nach Arbeitskräften aus dem grenznahen Ausland in die Höhe schnellte, insbesondere um auf dringende Anpassungsbedürfnisse zu reagieren. []
Literaturverzeichnis
- Bourdieu, P. (1979). La distinction. Critique sociale du jugement. Paris, Les Éditions de Minuit.
- Bourdieu, P. (1980). Le sens pratique. Paris, Les Éditions de Minuit.
- Dubois, Y. und P. Rérat (2012). Vivre la frontière: les pratiques spatiales transfrontalières dans l’Arc jurassien franco-suisse», Belgeo [Online], 1-2 | 2012, Online op 15 décembre 2012.
- Lahire, B. (2001). L’homme pluriel. Les ressorts de l’action. Paris, Nathan (Essais & recherches. Sciences sociales).
- Moine, A. (2017). Les coopérations de proximité dans l’Arc jurassien franco-suisse : Un enjeu de la cohésion sociale transfrontalière. Revue Géographique de l’Est, 57. DOI: 10.4000/rge.6045.
- Rérat, P. (2016). Mobilité quotidienne et attractivité résidentielle: les paradoxes du travail frontalier. Espace populations sociétés, 1 | 2016.
Bibliographie
- Bourdieu, P. (1979). La distinction. Critique sociale du jugement. Paris, Les Éditions de Minuit.
- Bourdieu, P. (1980). Le sens pratique. Paris, Les Éditions de Minuit.
- Dubois, Y. und P. Rérat (2012). Vivre la frontière: les pratiques spatiales transfrontalières dans l’Arc jurassien franco-suisse», Belgeo [Online], 1-2 | 2012, Online op 15 décembre 2012.
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- Rérat, P. (2016). Mobilité quotidienne et attractivité résidentielle: les paradoxes du travail frontalier. Espace populations sociétés, 1 | 2016.
Zitiervorschlag: Khaldi, Noame; Crevoisier, Olivier (2025). Französische Grenzgänger: Eine strukturelle Stütze des Schweizer Arbeitsmarkts. Die Volkswirtschaft, 13. Mai.