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Ein Freihandelsabkommen Schweiz-EU im Agrarbereich wäre eine Chance

Ein Freihandelsabkommen Schweiz-EU im Agrarbereich wäre eine Chance

Ein Freihandelsabkommen (FHA) mit der Europäischen Union (EU) im Agrar- und Lebensmittelbereich wäre unzweifelhaft mit gesamtwirtschaftlichen Vorteilen verbunden. Die Konsultation der interessierten Kreise in der Schweiz sowie Sondierungen bei der EU-Kommission haben ein grundsätzliches Interesse an einem solchen Abkommen ergeben. Auf der Grundlage dieser Ergebnisse hat der Bundesrat die Aufnahme exploratorischer Gespräche mit der EU beschlossen. Gleichzeitig sollen die wirtschaftlichen Auswirkungen vertieft untersucht und angemessene Begleitmassnahmen abgeklärt werden.

Erste Untersuchungen über die Machbarkeit sowie die wirtschaftlichen Vor- und Nachteile eines umfassenden Freihandelsabkommens zwischen der Schweiz und der EU im Agrar- und Lebensmittelbereich lassen den Schluss zu, dass ein solches Abkommen für die schweizerische Volkswirtschaft insgesamt vorteilhaft wäre.  Die Betonung liegt dabei auf einem umfassenden FHA: Freihandel im Agrarbereich kann nur dann seine volle Wirkung entfalten, wenn alle Stufen der ernährungswirtschaftlichen Wertschöpfungskette – Landwirtschaft, vor- und nachgelagerte Bereiche – einbezogen sind . Die vorgelagerten Stufen liefern die notwendigen Produktionsmittel wie Dünger, Saatgut und Maschinen; die nachgelagerten Stufen bestehen aus dem verarbeitenden Gewerbe, der Nahrungsmittelindustrie sowie dem Handel. Ein FHA mit der EU muss zudem sowohl tarifäre wie nicht-tarifäre Handelshemmnisse abbauen. Zu eliminieren sind also nicht nur Zölle und Kontingente, sondern auch Handelshemmnisse aufgrund technischer Vorschriften (siehe

Kasten 1
Der grenzüberschreitende Handel wird durch unterschiedliche technische Vorschriften bezüglich Produkten (Beschaffenheit, Verpackung, Beschriftung), Verfahren (Herstellung, Transport, Lagerung, Aufbereitung), Konformitätsbewertung (Prüfung, Inspektionen, Zertifizierung) und Zulassung im Herkunfts- und Zielland behindert.Diese nicht-tarifären Handelshemmnisse können auf drei Wegen abgebaut werden:- Durch gegenseitige Anerkennung von Produktvorschriften und Zulassungsverfahren in denjenigen Bereichen, in welchen die EU ihre Gesetzgebung harmonisiert hat. Aufgrund des Agrarabkommens von 1999 gilt die Anerkennung der Gleichwertigkeit der Vorschriften u.a. bereits für einzelne Produktionsmittel, Biostandards, Milch und Milchprodukte, Tiere und tierische Nebenprodukte; für die übrigen Nahrungsmittel tierischer Herkunft ist sie auf Anfang 2007 vereinbart. Die gegenseitige Anerkennung kann entweder mit der Feststellung der Gleichwertigkeit der schweizerischen und der EU-Gesetzgebungen oder durch eine möglichst weit gehende Übernahme des Acquis communautaire durch die Schweiz erreicht werden. Handlungsbedarf besteht insbesondere beim Lebensmittelrecht und bei den Produktionsmitteln;- durch eine freie Inverkehrsetzung von Produkten gemäss den nationalen Vorschriften des Ursprungslandes in denjenigen Bereichen, in denen die EU ihre Gesetzgebung nicht oder nur teilweise harmonisiert hat;- durch die Zulassung von Parallelimporten für bestimmte patentgeschützte Produkte (z.B. Tierarzneimittel, Pflanzenschutzmittel).).

Gesamtwirtschaftlicher Nutzen


Der Agrarfreihandel mit der EU würde das Produktivitätswachstum der schweizerischen Land- und Ernährungswirtschaft steigern. Die Preise im Agrarsektor würden erheblich sinken. Sie dürften sich auf allen Stufen dem EU-Preisniveau angleichen. In der Schweiz liegen die Preise durchschnittlich noch rund 40% höher als in der EU. Diese Preissenkung würde die Konkurrenzfähigkeit der durch die hohen Preise in der Schweiz betroffenen Sektoren stärken. Dies gilt namentlich für die ganze Wertschöpfungskette im Nahrungsmittelbereich (z.B. die Nahrungsmittelindustrie) und – in gewissem Masse – für die Tourismusbranche. Zudem würden Konsumentinnen und Konsumenten durch sinkende Lebensmittelkosten entlastet, womit die reale Kaufkraft der Haushalte steigen würde. Sinkende Preise dürften eine vermehrte Nachfrage auch in anderen Sektoren der Volkswirtschaft nach sich ziehen. Dank der Öffnung der Märkte könnten die Konsumenten auch von einem breiteren Angebot an Nahrungsmitteln profitieren. Gesamthaft wäre für die Schweiz mit einem zusätzlichen Wachstumsimpuls für die Wirtschaft zu rechnen. Erste Analysen gehen von der Grössenordnung eines halben Prozentpunktes aus, was eine dauerhafte Erhöhung des Bruttoinlandprodukts (BIP) um rund 2 Mrd. Franken bedeutet. Dadurch würde der Wirtschaftsstandort und Werkplatz Schweiz gestärkt.

Chancen für die Landwirtschaft


Im Unterschied zur absehbaren Liberalisierung im Rahmen der WTO würde ein FHA aber auch Chancen bieten, welche die damit einhergehenden Einkommensverluste teilweise kompensieren könnten. Insbesondere würden sich die Exportchancen der Schweizer Landwirtschaft verbessern: Der EU-Absatzmarkt mit 450 Mio. Konsumentinnen und Konsumenten für Schweizer Produkte würde vollständig geöffnet. Wegen seiner geografischen Nähe, ähnlich gelagerter Konsumgewohnheiten sowie der Bekanntheit der schweizerischen Qualität ist die EU der Hauptexportmarkt der Schweizer Agrarwirtschaft. Bereits heute gehen 70% unserer Agrarausfuhren in die EU, während 80% der Einfuhren aus der EU stammen (siehe

Kasten 2
Im Jahr 2004 gingen 69% der Schweizer Agrarexporte (2,8 Mrd. Fr.) in die EU, während 77% der Schweizer Agrarimporte (6,9 Mrd. Fr.) aus der EU stammten. In diesem Jahr haben die Schweizer Exporte um rund 378 Mio. Franken gegenüber dem Vorjahr zugenommen, was das Exportpotenzial der Schweizer Landwirtschaftsprodukte belegt. Rund zwei Drittel der Importe bestehen aus Agrarrohstoffen; Exporte sind zu ebenfalls zwei Dritteln landwirtschaftliche Verarbeitungsprodukte. Während die Schweiz im Handel mit der EU bei den Agrarrohstoffen ein Defizit aufweist, kommen die Exporte von landwirtschaftlichen Verarbeitungsprodukten (2005: 2,0 Mrd. Fr.) auf den fast gleichen Wert wie die Importe. Die Schweizer Nahrungsmittelindustrie exportiert rund 20% der Produktion.).  Sinkende Kosten für Produktionsmittel – und damit tiefere Produktionskosten – stärken die Wettbewerbsfähigkeit des schweizerischen Agrarsektors. Um alle Chancen zu nutzen, wäre eine weitere Spezialisierung der landwirtschaftlichen Produktion in Richtung möglichst hoher Wertschöpfung notwendig. Davon dürfte insbesondere die Milchwirtschaft profitieren, während der Getreideanbau eher zurückgehen dürfte.

Mehr Effizienz in Verarbeitung und Handel


Nur 20% bis 30% der Preisunterschiede bei den Lebensmitteln sind auf höhere landwirtschaftliche Produzentenpreise zurückzuführen. Eine Annäherung an die EU-Konsumentenpreise bedingt deshalb auch erhebliche Effizienzgewinne und Strukturanpassungen auf den vor- und nachgelagerten Stufen. Dabei stehen der Beschaffungsmarkt der Landwirtschaft, die erste Verarbeitungsstufe (Herstellung von Produkten wie Käse, Milchpulver, Mehl, Fleisch, Öle, Fette) und der Handel im Vordergrund. Für die zweite nachgelagerte Stufe (industriell verarbeitete Produkte wie Schokolade, Biskuits, Fertigsuppen, Bonbons usw.) bestehen bereits heute freihandelsähnliche Verhältnisse mit der EU. Weite Bereiche der schweizerischen Nahrungsmittelindustrie könnten von einer Abschaffung der nicht-tarifären Handelshemmnisse profitieren, zumal Qualität und Image der Schweizer Rohstoffe und Produkte sehr gut sind. Auf der vorgelagerten Stufe (Produktionsmittel) sowie auf der ersten nachgelagerten Stufe nähme der Konkurrenzdruck zu; zudem würden für einzelne Anbieter erhebliche neue Marktpotenziale erschlossen.

Notwendige Begleitmassnahmen


Der bestehende Strukturwandel in der Landwirtschaft sowie in den vor- und nachgelagerten Stufen würde durch den Agrarfreihandel beschleunigt. Ersten Schätzungen zufolge würde das Nettosektoreinkommen der Landwirtschaft – 2004 rund 3 Mrd. Franken – bis zum Ende des Restrukturierungsprozesses auf ca. 1,5 Mrd. Franken sinken. Die Intensität der Strukturanpassungen im Einzelnen wäre vom Zeitrahmen der Übergangsphase bis zum vollständigen Freihandel abhängig. Mit entsprechenden Begleitmassnahmen wäre aber ein Agrarfreihandel auch aus sozial- und agrarpolitischer Sicht vertretbar. Unter der Annahme, dass das heutige Niveau der Direktzahlungen beibehalten wird, könnte mit einer Kombination von Ausstiegshilfen und kurzzeitig befristeten Ausgleichszahlungen eine sozialverträgliche Entwicklung der Landwirtschaft gewährleistet werden. Eine eingehende Diskussion über Art und Umfang angemessener interner Begleitmassnahmen kann erst in Kenntnis des tatsächlichen Inhalts eines FHA und auf der Grundlage einer fundierten Beurteilung der wirtschaftlichen Konsequenzen stattfinden.

Logische Weiterentwicklung des Abkommens von 1999


Im industriellen Bereich herrscht seit 1972 Freihandel mit der EU. Auch der Handel mit landwirtschaftlichen Verarbeitungsprodukten und reinen Agrarprodukten ist bereits partiell liberalisiert. Die im Agrarabkommen von 1999 enthaltene Evolutivklausel sieht vor, dass die Vertragsparteien unter Wahrung ihrer Agrarpolitiken weitere Liberalisierungsschritte unternehmen können. Die Ausweitung des bilateralen Freihandels mit der EU auf alle Agrarprodukte wäre damit eine Weiterführung des eingeschlagenen agrarwie auch europapolitischen Wegs, nämlich einer schrittweisen Liberalisierung des bilateralen Warenverkehrs mit der EU. Die europa- und handelspolitische Souveränität würde gewahrt. Ein Agrarfreihandelsabkommen würde weder eine Übernahme der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) noch der Handels- und Zollpolitik der EU bedeuten. Weitere europapolitische Schritte würden nicht präjudiziert. Ein solches Abkommen wäre auch mit der Weiterentwicklung der Agrarpolitik (AP 2011) kompatibel und würde für die Landwirte bezüglich ihrer Investitionsentscheide klare Verhältnisse schaffen.  Ein Agrarfreihandel Schweiz-EU würde sich ausserdem in die weltweite Liberalisierungsdynamik einfügen. Dieser kann und will sich die Schweiz aus gesamtwirtschaftlichem Interesse nicht entziehen. Mit der prioritären Öffnung des Agrarhandels mit der EU, dem wichtigsten und aussichtsreichsten Exportmarkt des Schweizer Agrarsektors, würde die Schweiz diese Entwicklung in einer Weise gestalten, die den wettbewerbsfähigen Schweizer Betrieben zusätzliche Chancen im Export bietet. Mit einem adäquaten Tempo und den notwendigen Begleitmassnahmen würde die Erfüllung der verfassungsmässigen Aufgaben der Landwirtschaft nicht in Frage gestellt.

AP 2011 ist zweckmässig


Für ein Agrarfreihandelsabkommen mit der EU muss mit einer Frist von mindestens drei Jahren bis zum Inkrafttreten gerechnet werden: je ein Jahr für die Vorbereitung, die Verhandlungen und die Genehmigung. Zudem würden sicher mehrjährige Übergangsfristen bis zum vollständigen Abbau der Grenzen verhandelt. Vorderhand ist es deshalb zweckmässig und richtig, die AP 2011 umzusetzen. Einerseits senkt die AP 2011 die Kosten der Landwirtschaft. Unter der Voraussetzung, dass die Preisrückgänge weitergegeben werden, können damit auch die Konsumenten entlastet werden. Andererseits sind die vorgeschlagenen Reformschritte im Hinblick auf die verschiedenen möglichen Marktöffnungsszenarien zielkonform. Die Zeit wird genutzt, um die Wettbewerbsfähigkeit der Landwirtschaft – zusammen mit jener der vor- und nachgelagerten Stufen – weiter zu verbessern und so den Sektor auf weiter gehende Marktöffnungen vorzubereiten.

Kasten 1: Nicht-tarifäre Handelshemmnisse
Der grenzüberschreitende Handel wird durch unterschiedliche technische Vorschriften bezüglich Produkten (Beschaffenheit, Verpackung, Beschriftung), Verfahren (Herstellung, Transport, Lagerung, Aufbereitung), Konformitätsbewertung (Prüfung, Inspektionen, Zertifizierung) und Zulassung im Herkunfts- und Zielland behindert.Diese nicht-tarifären Handelshemmnisse können auf drei Wegen abgebaut werden:- Durch gegenseitige Anerkennung von Produktvorschriften und Zulassungsverfahren in denjenigen Bereichen, in welchen die EU ihre Gesetzgebung harmonisiert hat. Aufgrund des Agrarabkommens von 1999 gilt die Anerkennung der Gleichwertigkeit der Vorschriften u.a. bereits für einzelne Produktionsmittel, Biostandards, Milch und Milchprodukte, Tiere und tierische Nebenprodukte; für die übrigen Nahrungsmittel tierischer Herkunft ist sie auf Anfang 2007 vereinbart. Die gegenseitige Anerkennung kann entweder mit der Feststellung der Gleichwertigkeit der schweizerischen und der EU-Gesetzgebungen oder durch eine möglichst weit gehende Übernahme des Acquis communautaire durch die Schweiz erreicht werden. Handlungsbedarf besteht insbesondere beim Lebensmittelrecht und bei den Produktionsmitteln;- durch eine freie Inverkehrsetzung von Produkten gemäss den nationalen Vorschriften des Ursprungslandes in denjenigen Bereichen, in denen die EU ihre Gesetzgebung nicht oder nur teilweise harmonisiert hat;- durch die Zulassung von Parallelimporten für bestimmte patentgeschützte Produkte (z.B. Tierarzneimittel, Pflanzenschutzmittel).

Kasten 2: Handelsbeziehungen zwischen der Schweiz und der EU im Agrarbereich
Im Jahr 2004 gingen 69% der Schweizer Agrarexporte (2,8 Mrd. Fr.) in die EU, während 77% der Schweizer Agrarimporte (6,9 Mrd. Fr.) aus der EU stammten. In diesem Jahr haben die Schweizer Exporte um rund 378 Mio. Franken gegenüber dem Vorjahr zugenommen, was das Exportpotenzial der Schweizer Landwirtschaftsprodukte belegt. Rund zwei Drittel der Importe bestehen aus Agrarrohstoffen; Exporte sind zu ebenfalls zwei Dritteln landwirtschaftliche Verarbeitungsprodukte. Während die Schweiz im Handel mit der EU bei den Agrarrohstoffen ein Defizit aufweist, kommen die Exporte von landwirtschaftlichen Verarbeitungsprodukten (2005: 2,0 Mrd. Fr.) auf den fast gleichen Wert wie die Importe. Die Schweizer Nahrungsmittelindustrie exportiert rund 20% der Produktion.

Zitiervorschlag: Jacques Chavaz (2006). Ein Freihandelsabkommen Schweiz-EU im Agrarbereich wäre eine Chance. Die Volkswirtschaft, 01. September.