
Die deutsche Automobilindustrie steht mit dem Wandel hin zur Elektromobilität vor strukturellen Herausforderungen. (Bild: Keystone)
Wenn Deutschland die Grippe hat, hustet die Schweiz, sagt man – so eng sind die beiden Volkswirtschaften miteinander verbunden. Das liegt daran, dass Deutschland und die Schweiz zum einen geografisch nah beieinanderliegen und zum anderen eine gemeinsame Sprache haben.
Wirtschaftliche Abkopplung seit 2019
Doch seit der Corona-Krise – respektive kurz davor – driften die wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands und die der Schweiz deutlich auseinander. Das deutsche Bruttoinlandprodukt (BIP) lag im 1. Quartal 2024 um 0,3 Prozent über dem Niveau vor der Corona-Krise, das Schweizer BIP hingegen um 6,4 Prozent. Stark ins Gewicht fällt die Industrie: Während die Wertschöpfung der Schweizer Industrie im 1. Quartal 2024 fast 14 Prozent über dem Niveau vor der Corona-Krise lag, lag diese in Deutschland mit fast 1 Prozent sogar knapp darunter (siehe Abbildung).
Die deutsche Industrie schwächelt seit einigen Jahren. Ein Grund hierfür sind die gestiegenen Energiepreise, die sich insbesondere bei energieintensiven Branchen wie Chemie, Papier oder Metall bemerkbar machen. Zudem entwickelte sich der Welthandel in den vergangenen Jahren im historischen Vergleich verhalten. Darüber hinaus werden von den Unternehmen in Deutschland häufig ein hoher bürokratischer Aufwand, langwierige Genehmigungsverfahren und eine schlechte Infrastruktur als Belastungsfaktoren genannt.[1]
Die Wertschöpfung in der Industrie ist in der Schweiz stärker gestiegen als in Deutschland
INTERAKTIVE GRAFIK
Quellen: Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) / Destatis
Unterschiedliche Branchenstruktur
Die gestiegenen Energiepreise und der schwache Welthandel trafen die deutsche Industrie stärker als jene der Schweiz. Ein wesentlicher Grund dafür liegt in der Branchenstruktur. In der Schweiz haben die Pharmaindustrie und die Uhrenindustrie einen deutlich höheren Anteil an der Wertschöpfung – beide Sektoren sind eher konjunkturresistent und wenig energieintensiv. Insbesondere die Pharmaindustrie profitierte während der Corona-Krise von einer hohen Nachfrage. In Deutschland aber haben der Maschinenbau und die Automobilindustrie ein hohes Gewicht: Der Maschinenbau schwankt stark mit der Konjunktur, und die deutsche Automobilindustrie steht derzeit mit dem Wandel hin zur Elektromobilität vor strukturellen Herausforderungen.
Doch auch ausserhalb der Industrie gibt es teilweise deutliche Unterschiede in der Branchenstruktur, die die divergierende wirtschaftliche Entwicklung zwischen Deutschland und der Schweiz erklären. So haben Sektoren mit hoher Produktivität wie der Bankensektor oder auch der Versicherungssektor in der Schweiz ein doppelt so hohes Gewicht wie in Deutschland. Und auch der Grosshandel, inklusive des Rohwarenhandels, der im Zuge der Energiekrise hohe Wachstumsraten erzielte, ist in der Schweiz mit über 10 Prozent Anteil an der Wertschöpfung doppelt so gewichtig.
Beim Warenhandel ist Deutschlands Anteil als Handelspartner für die Schweiz gesunken
Quelle: Bundesamt für Zoll und Grenzsicherheit (BAZG)
Anmerkung: Nominal ohne Wertsachen, durchschnittlicher Anteil am Total der Exporte resp. Importe in Prozent.
Entkopplung der Handelsströme
Deutschlands Bedeutung für den schweizerischen Warenhandel hat in den vergangenen Jahren abgenommen. Bei den Importen stammt nur noch ein Viertel aller Güter aus Deutschland, im Vergleich zu 34 Prozent in den 1990er-Jahren (siehe Tabelle). Insgesamt gesehen ist Deutschland jedoch nach wie vor das wichtigste Herkunftsland für importierte Güter, gefolgt von Italien und Frankreich. China hat seit den 1990er-Jahren deutlich an Bedeutung gewonnen und liegt inzwischen fast gleichauf mit Frankreich. Die USA liegen hinsichtlich der Importe lediglich an fünfter Stelle.
Während in den 1990er-Jahren fast ein Viertel aller Schweizer Warenexporte nach Deutschland ging, waren es vergangenes Jahr nur noch rund 16 Prozent. Neben Deutschland haben auch die direkten Nachbarn Italien und Frankreich an Bedeutung verloren. Stattdessen gehen inzwischen deutlich mehr Warenexporte nach China und in die USA – letzteres Land ist sogar der wichtigste Abnehmer von Schweizer Waren geworden.
Zwar haben die USA Deutschland als wichtigste Exportdestination abgelöst, die Exporte nach Deutschland verteilen sich jedoch breiter: So werden in die USA vor allem Produkte der chemisch-pharmazeutischen Industrie, Uhren und Dienstleistungen exportiert. Nach Deutschland sind es neben pharmazeutischen Produkten mehr Maschinen, Metalle und sonstige Güter. Es ist daher nicht auszuschliessen, dass einzelne Branchen oder Unternehmen in der Schweiz durch die schwächelnde Wirtschaft in Deutschland weniger exportieren können und deutlich stärker betroffen sind, als es die gesamtwirtschaftliche Betrachtung vermuten lässt.
Hohe Inflation dämpft den Konsum in Deutschland
Neben der gedämpften Entwicklung in der Industrie gibt es noch andere Gründe für das schwache Wachstum in Deutschland. So war die Teuerung in Deutschland in den vergangenen Jahren deutlich höher als in der Schweiz und erreichte auf dem Höhepunkt 8,8 Prozent im Oktober 2022. In der Schweiz stieg die Teuerung derweil auf 3,5 Prozent im August 2022. Dies ist zwar im historischen Vergleich hoch, international gesehen aber erstaunlich niedrig. Entsprechend litten die Einkommen der Haushalte in Deutschland stärker, wodurch diese ihre Konsumausgaben deutlich reduzierten.
Der private Konsum in der Schweiz wirkt demgegenüber seit 2021 stützend auf die Konjunktur. Ein Faktor dürfte dabei auch die Einwanderung gespielt haben: In beiden Ländern wuchs die Bevölkerung in den vergangenen Jahren deutlich, nicht zuletzt wegen der Flüchtlinge aus der Ukraine. In der Schweiz war der Anstieg aber ausgeprägter.
Die unterschiedliche Entwicklung von Deutschland und der Schweiz dürfte vorerst anhalten. Die Expertengruppe Konjunkturprognosen des Bundes rechnet in ihrer Prognose vom Sommer 2024 mit einem lediglich unterdurchschnittlichen Wachstum der Schweizer Wirtschaft von 1,2 Prozent. Im kommenden Jahr dürfte sich das Wachstum auf 1,7 Prozent einpendeln.[2] Gleichzeitig dürfte das BIP in Deutschland lediglich um 0,3 Prozent resp. 1,2 Prozent im Jahr 2025 zulegen.
Literaturverzeichnis
- Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz – BMWK (2023). Industriepolitik in der Zeitenwende. Industriestandort sichern, Wohlstand erneuern, Wirtschaftssicherheit stärken.
- Nationaler Normenkontrollrat – NKR (2023). Weniger, einfacher, digitaler. Bürokratie abbauen. Deutschland zukunftsfähig machen. 20. November
Bibliographie
- Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz – BMWK (2023). Industriepolitik in der Zeitenwende. Industriestandort sichern, Wohlstand erneuern, Wirtschaftssicherheit stärken.
- Nationaler Normenkontrollrat – NKR (2023). Weniger, einfacher, digitaler. Bürokratie abbauen. Deutschland zukunftsfähig machen. 20. November
Zitiervorschlag: Neuwirth, Stefan (2024). Die Schweiz koppelt sich ab. Die Volkswirtschaft, 16. Juli.