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«Die Talsohle haben wir durchschritten»

Ralf J. Bopp, Geschäftsführer der Handelskammer Deutschland - Schweiz, spricht von einer länger anhaltenden konjunkturellen Schwächephase in Deutschland. Er erklärt auch, weshalb die Marktnähe für kleine Firmen wichtig sei.
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Ralf J. Bopp in seinem Büro in Zürich: «In Umfragen bei unseren Mitgliedern wird der Fachkräftemangel immer als eine der grössten Herausforderungen genannt.» (Bild: Keystone / Christian Merz)
Herr Bopp, Deutschland ist der wichtigste Handelspartner der Schweiz. Vertreten Sie Schweizer Firmen in Deutschland oder deutsche Firmen in der Schweiz?

Beides. Wir sind eine Organisation der Wirtschaft – für Unternehmen in der Schweiz, in Deutschland und im Fürstentum Liechtenstein.

Ist es üblich für Handelskammern, dass beide Länder von derselben Kammer abgedeckt werden?

Eine Handelskammer kümmert sich überwiegend um die Förderung des Exports aus dem Heimmarkt in ihr Sitzland. Die italienische Kammer beispielsweise sitzt in der Schweiz und die Schweizer Kammer in Italien. Die deutsche Handelskammer aber war von Anfang an, also schon vor 112 Jahren, bilateral organisiert und hatte schon immer sehr viele Schweizer Firmen als Mitglieder.

Bekommen Sie Geld vom Staat?

Wir finanzieren uns ohne staatliche Unterstützung. Das heisst, wir sind vollständig selbstfinanziert über Mitgliederbeiträge, aber auch über kostenpflichtige Dienstleistungen, die wir erbringen.

Wo brauchen die Firmen Unterstützung?

Wir beraten deutsche Unternehmen, die sich im Schweizer Markt engagieren wollen, oder umgekehrt. Da tauchen Fragen auf wie: Lohnt es sich überhaupt, in diesen Markt zu investieren? Wer sich schon seit längerer Zeit in den beiden Märkten bewegt, sucht bei uns Unterstützung im Bereich Geschäftsabwicklung. Vertriebswege effizienter zu gestalten oder umzubauen, ist ein Thema, Rechts- und Steuerfragen ein anderes.

Bereitet Ihnen die wirtschaftliche Lage in Deutschland Sorgen?

Wir befinden uns im Moment in einer länger anhaltenden konjunkturellen Schwächephase. Wir hatten in Deutschland im letzten Jahr eine leichte Rezession, die in diesem Jahr in ein reales Wachstum von 0,2 Prozent übergegangen ist. Das Gute ist: Die Talsohle haben wir durchschritten.

Also keine Sorgen? Haben Sie eine solch vielseitig belastete Situation wie jetzt schon einmal erlebt?

Die Kombination von allem ist schon aussergewöhnlich. Wir haben im Moment Änderungen im geopolitischen Bereich, die Handelsströme ändern sich, da viele Firmen ihre Lieferquellen diversifizieren und Marktzugangshürden in diversen Exportmärkten zunehmen. Dazu kommen höhere Energiekosten, generell die Zunahme des Protektionismus und strukturelle Probleme des Binnenmarkts.

Hohe Arbeitslosenzahlen waren für die Politik stets ein Signal, dass es der Wirtschaft nicht gut geht – das funktioniert heute nicht mehr.

Das britische Magazin «The Economist» nennt Deutschland den kranken Mann Europas wie bereits vor 20 Jahren. Was ist jetzt anders?

Das Problem Deutschlands damals war der Arbeitsmarkt. Wir hatten hohe Arbeitslosenzahlen auf der einen und relativ hohe Löhne auf der anderen Seite. Heute sind im Zuge der Globalisierung sehr hohe Zulieferverflechtungen entstanden. Um den neuen, geopolitischen Herausforderungen zu begegnen, müssen die Unternehmen diversifizieren und ihre Lieferketten resilienter machen. Aber es ist teuer, mehrere Lieferquellen zu suchen und zu unterhalten. Im Gegensatz zu damals wirken der Arbeitsmarkt und die private Nachfrage heute eher stabilisierend auf die Konjunktur. Wir hatten zwar eine Rezession, aber die Arbeitslosenzahlen waren und sind immer noch tief. Das ist einerseits erfreulich, führt aber andererseits zu einer Fehleinschätzung.

Inwiefern?

Hohe Arbeitslosenzahlen waren für die Politik stets ein Signal, dass es der Wirtschaft nicht gut geht – das funktioniert heute nicht mehr. Der Fachkräftemangel und die demografische Entwicklung führen dazu, dass die Arbeitslosenzahlen niedrig bleiben. Das signalisiert der Politik: Die Wirtschaft sei in Ordnung. Die Hausaufgaben für die Betriebe sind aktuell sehr anspruchsvoll, viele müssen ihr Geschäftsmodell komplett überprüfen und stehen vor grossen strukturellen Anpassungen. Der Fachkräftemangel verschärft die Situation zusätzlich.

Gemäss dem Institut für Weltwirtschaft Kiel sinkt die Arbeitszeit der Erwerbstätigen in den nächsten Jahren in Deutschland. Wie nehmen Sie das wahr?

In Umfragen bei unseren Mitgliedern wird der Fachkräftemangel immer als eine der grössten Herausforderungen genannt. Dieser wird sich voraussichtlich in den nächsten Jahren massiv verschärfen. Prognosen gehen davon aus, dass in den nächsten zehn Jahren die Zahl der erwerbsfähigen Fachkräfte in Deutschland um 10 Prozent sinken wird. Man kann darauf reagieren, indem man den Fachkräftemangel durch qualifizierte Zuwanderung abdeckt. Die zweite Möglichkeit ist, effizienter zu werden. Wenn beides nicht gelingt, gibt es Wachstumsverluste. Dass die Arbeitszeit sinkt, geht vor diesem Hintergrund in die völlig falsche Richtung.

Deutschland und die Schweiz sind sich in vielen Dingen ähnlich. Beide Länder exportieren viel, sparen viel und haben eine starke Industrie. Wo sehen Sie Unterschiede?

Generell ist die Unternehmenssteuer in der Schweiz tief und die Infrastruktur erstklassig im Vergleich. Deutschland punktet eher mit der Grösse des Absatzmarkts und der zentralen Lage in Europa im EU-Binnenmarkt. Auch hat Deutschland mehr Landreserven. Grosse Gewerbegebiete in der Schweiz sind, wenn sie überhaupt vorhanden sind, relativ teuer. Gleichauf liegen die Länder, wenn es um Wissenschafts- und Forschungsstandorte geht. In beiden Ländern steckt eine grosse Innovationskraft.

Was wiegt schwerer für Schweizer Exportfirmen: der starke Franken oder die schwache Konjunktur in Deutschland?

Das Thema des starken Schweizer Frankens ist schon länger da, wobei es eher ein schwacher Euro ist als ein starker Franken. Aber die Situation ist am Schluss für die Unternehmen gleich, sie bleibt nämlich herausfordernd. Im Zuge dessen mussten manche Geschäftsbereiche geschlossen werden. Die schwache Konjunktur schwächt den Export nach Deutschland zusätzlich. Das gilt insbesondere im Bereich Maschinenanlagen, Bauelektrotechnik oder Metallzulieferteile, weil sich in dieser Branche sehr viele kleine und mittelständische Betriebe befinden, für die der deutsche Exportmarkt wegen seiner Marktnähe relativ wichtig ist.

«Unsere Aufgabe ist die aktive Unterstützung der Unternehmen als Dienstleister im Handelsverkehr.» (Bild: Keystone / Christian Merz)

 

Wo drückt der Schuh bei Schweizer Firmen, die nach Deutschland exportieren, sonst noch?

Während Corona sind grosse Lieferschwierigkeiten aufgetreten, das hat in vielen Fällen dazu geführt, dass zur Absicherung Lagerbestände aufgebaut worden sind. Dieser Lageraufbau muss nun wieder abgetragen werden. Das ist auch ein Grund, warum die Nachfrage aus Deutschland schwächer geworden ist. Unabhängig davon wird immer wieder das Thema Zollabwicklung genannt: Die Schweiz ist nicht Mitglied der Zollunion, und es findet an der Grenze eine Zollabfertigung statt. In der EU können die LKW meist an der Grenze ohne Aufenthalt frei durchfahren. Dieser Wunsch wird uns von den Firmen immer wieder angetragen. Die Warenzollgrenze führt zu einem hohen administrativen Aufwand.

Die hohe Bürokratie in Deutschland ist allgemein ein zentrales Thema. Was bedeutet das für die Unternehmen?

Die Bürokratie ist in Deutschland ein Problem. In jeder Umfrage bei unseren Mitgliedern wird die Bürokratie als deutlich zu hoch kritisiert. Sie hat sich zu einem veritablen Investitionshindernis entwickelt. 14 Stunden pro Woche arbeitet ein typisches mittelständisches Unternehmen im Gastgewerbe, nur um seine Bürokratiepflichten zu erfüllen.

Wie kam es so weit?

Als eines der grössten Bürokratiehindernisse gilt das Baurecht. Aber es kam eine Menge dazu in den letzten Jahren, insbesondere in den letzten fünf bis zehn Jahren: die Datenschutzgesetzgebung, die Lieferkettensorgfaltspflichten und Regulierungen im Zusammenhang mit der Dekarbonisierung. Alles zusammen führt zu mehr Berichts- und Nachweispflichten, zu mehr Planungs- und Genehmigungsverfahren. Grosse Firmen setzen Beauftragte ein, kleine Firmen können das nicht, das bleibt dann an der Geschäftsleitung hängen. Da ist ein Befreiungsschlag notwendig.

Was versprechen Sie sich vom vierten Bürokratieentlastungsgesetz, das die Regierung verabschieden will?

Es sind zu wenige der Forderungen der Wirtschaft zur Entlastung aufgenommen worden. Das Gesetz sollte eigentlich schon Anfang Juli verabschiedet worden sein. Das wurde aber verschoben. Man kann nur hoffen, dass die Regierung es ernst genug nimmt. Es geht schliesslich um eine der wichtigsten Rahmenbedingungen für den Wirtschaftsstandort Deutschland.

Wirken Sie als Handelskammerchef auf politischer Ebene mit?

Unsere Handelskammer beschäftigt sich nicht mit Politik. Unsere Aufgabe ist die aktive Unterstützung der Unternehmen als Dienstleister im Handelsverkehr. Wenn dort Schwierigkeiten auftreten, adressieren wir diese an die entsprechenden Regierungsstellen, um das Thema publik zu machen.

Es gibt Schweizer Unternehmen, die keine Werkzeuge von einem Betrieb einkaufen, der mehr als 200 Kilometer entfernt ist.

Deutschland wählt mit der AfD zunehmend rechtspopulistisch. Firmenchefs von der Deutschen Bank und dem Halbleiterfabrikanten Infinion zeigen sich besorgt darüber und sprechen sich deutlich für Zuwanderung aus. Hat die politische Lage Einfluss auf die Schweizer Unternehmen?

Bisher konnte ich das nicht feststellen. Die Investitionstätigkeit ist ungebrochen. Politisch gesehen ist es in der Tat beunruhigend. Die Demokratie in Deutschland halte ich aber für sehr breit abgestützt und fest gesichert. Den Diskurs mit den Rechtspopulisten wird es geben, die in vielen Fällen einfache Antworten haben, aber in meinen Augen keine Lösungen. Aber diese politische Auseinandersetzung müssen wir aushalten und wann immer möglich in der Wirtschaft Farbe bekennen und unsere demokratischen Werte und Prinzipien verteidigen.

Das Volumen des Handels der Schweiz mit Baden-Württemberg und Bayern zusammen ist grösser als das mit China. Wo liegen die Vorteile im Handel mit den angrenzenden Bundesländern?

Über 95 Prozent der Firmen sind KMU. Für diese ist Marktnähe besonders wichtig. Es gibt Schweizer Unternehmen, die keine Werkzeuge von einem Betrieb einkaufen, der mehr als 200 Kilometer entfernt ist. Weil sie sich dann schnell ins Auto setzen und vor Ort etwas besprechen oder Produktbemusterungen vornehmen können. Die Transportwege sind kürzer. Auch die Kontrolle der Lieferketten und die Sorgfaltspflichten sind einfacher zu bewerkstelligen.

Sie waren schon bei der Handelskammer, als die Schweiz zum EWR Nein gesagt hat.

Daran kann ich mich noch gut erinnern, das war am 6. Dezember 1992. Ich war damals bereits Geschäftsleitungsmitglied und Leiter der Abteilung Wirtschaftsberatung. Mir war klar, dass das Ganze knapp werden würde, aber am Schluss war es eine grosse Enttäuschung, dass die Schweiz Nein gesagt hat.

Wie lange bleiben Sie noch auf Ihrem Posten als Geschäftsführer?

Im September gehe ich regulär in Pension. Das ist einer der Termine, die kennt man schon Jahrzehnte vorher, aber dann kommen sie auf einmal ganz plötzlich.

Sie sind gebürtiger Deutscher. Bleiben Sie in der Schweiz wohnhaft?

Ja, meine Familie ist hier, Kinder, Enkelkinder. Mein Lebensmittelpunkt ist in der Schweiz.

Zitiervorschlag: Interview mit Ralf J. Bopp, Geschäftsführer der Handelskammer Deutschland - Schweiz (2024). «Die Talsohle haben wir durchschritten». Die Volkswirtschaft, 16. Juli.

Ralf J. Bopp

Der 64-jährige Ralf J. Bopp arbeitet seit über 30 Jahren bei der Handelskammer Deutschland – Schweiz, davon fast 20 Jahre als Geschäftsführer. Er leitet ein Team von 26 Mitarbeitenden. Ende September 2024 wird er ordentlich pensioniert. Seine Nachfolge tritt Dr. Marion Hohmann-Viol an. Die Handelskammer Deutschland – Schweiz informiert und berät deutsche und Schweizer Firmen seit über 110 Jahren in allen Fragen des grenzüberschreitenden Wirtschaftsverkehrs zwischen Deutschland und der Schweiz sowie Liechtenstein. Die Kammer zählt rund 1600 Mitglieder – davon sind ein Drittel Schweizer Firmen.