Arif Khan – indischer Skichampion aus dem Himalaja. (Bild: Keystone)
Was haben Indien und die Schweiz gemeinsam? Auf den ersten Blick eigentlich nicht sehr viel. Als bevölkerungsreichstes Land der Welt mit hohen BIP-Wachstumsraten befindet sich Indien in einer ganz anderen Entwicklungsphase als die Schweiz. Schaut man aber genauer hin, erkennt man ein dichtes Geflecht von menschlichen, kulturellen und natürlich wirtschaftlichen Beziehungen, die über viele Jahre hinweg entstanden sind.
Als frisch unabhängiger Staat unterzeichnete Indien 1948 das erste Friedens- und Freundschaftsabkommen seines Bestehens mit der Schweiz. Dieses Abkommen sollte sich als positives Omen erweisen, denn es sah bereits den Abschluss von Handelsverträgen vor, die damals als Treaties of Establishment and Commerce bezeichnet wurden.
75 Jahre später wurde dieses Vorhaben in die Tat umgesetzt: Indien und die Efta-Staaten, zu denen auch die Schweiz gehört, unterzeichneten im März 2024 das Trade and Economic Partnership Agreement (Tepa). Der Vertragsabschluss ist nicht nur ein historischer Moment, sondern auch ein Ausdruck der tiefen Freundschaft zwischen den beiden Ländern. Die Schweizer Botschaft in Delhi und das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) zeigen diese schweizerisch-indische Freundschaft anhand von fünf Beispielen.
Ein Stück Indien im Portemonnaie
Von 1997 bis 2017 trugen die Schweizerinnen und Schweizer meist ahnungslos ein Stück Indien im Portemonnaie mit sich herum: Auf der Rückseite der alten Zehnernote war nämlich ein Ausschnitt einer Bauskizze der indischen Stadt Chandigarh zu sehen, die im Norden des Landes liegt. Wie kommt das?
Kurz nach der Unabhängigkeit Indiens im Jahr 1947 erhielt der schweizerisch-französische Stararchitekt Le Corbusier den Auftrag, eine Hauptstadt für den neu entstandenen Gliedstaat Punjab zu entwerfen. Seine Vision einer gut organisierten und funktional gebauten Stadt sollte Indiens Eintritt in die Moderne symbolisieren. Le Corbusier teilte die Stadt in verschiedene Zonen für Wohnen, Handel, Arbeit und Freizeit auf. Das rechtwinklige Strassennetz zeichnet sich auch heute noch durch zahlreiche Grünflächen und Spielplätze aus. Die schweizerische Zehnernote mit dem Porträt von Le Corbusier und seiner Bauskizze wurde zwar 2017 aus dem Verkehr gezogen, doch seine Architektur hat Chandigarh nachhaltig geprägt: Die von ihm entworfenen Verwaltungsgebäude aus Sichtbeton gehören zum Unesco-Weltkulturerbe. In Indien wird Chandigarh «City Beautiful» (schöne Stadt) genannt.
Bollywood am Lauenensee
Umgekehrt hat Indien auch die Schweizer Geografie geprägt. Der Lauenensee im Berner Oberland trägt nämlich den Übernamen «Lake Yash Chopra» nach einem berühmten Bollywood-Regisseur, der zahlreiche Filmszenen in dieser Region gedreht hat. Sein ikonisches Werk «Die Beherzten werden die Braut mitnehmen»[1] von 1995 wurde in der Gegend um Interlaken gefilmt und läuft auch heute noch in den indischen Kinos. Indische Filmstars, die sich vor den verschneiten Berggipfeln und glitzernden Seen der Berner Alpen in die Arme fallen, haben zu einem starken Anstieg des indischen Tourismus in der Schweiz geführt. 2023 wurden hierzulande 602’000 Übernachtungen von indischen Gästen verzeichnet – Tendenz steigend. Das macht Indien zum zweitgrössten Herkunftsmarkt für den Schweizer Tourismus. Diese Begeisterung für unser Land führte zu einer fast industriellen Visumsproduktion: Zwischen 25 und 35 Prozent aller Visa, welche die Schweiz jedes Jahr weltweit ausstellt, gehen an indische Touristen. 2023 wurden fast 200’000 Visa vergeben – ein Rekord, der 2024 wahrscheinlich erneut übertroffen wird.
Heilige Kühe
Im südindischen Bundesstaat Kerala stösst man auf einen nachhaltigen Beweis der wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit der Schweiz. Von 1963 bis 1996 unterstützte die Schweiz dort Milchgenossenschaften, um im Rahmen des Indo-Swiss Kerala Project die Produktivität kleiner Betriebe zu verbessern. Ein weiteres, ähnliches Projekt namens North Kerala Dairy Development Project lief von 1987 bis 2002.
Dank der schweizerischen Unterstützung konnte die Milchproduktion seit 1966 um das 30-Fache erhöht werden! Und auch nach dem Ende des Programms blieb die Initiative erfolgreich: Heute profitieren knapp 1200 Genossenschaften mit über 100’000 Mitgliedern von den damals geschaffenen Strukturen. Zudem konnte auch der ökologische Fussabdruck der Milchwirtschaft reduziert werden. Der grösste Teil der Milch ist für den inländischen Verbrauch bestimmt. Ein Teil wird jedoch auch in Form von Butter oder Eiscreme exportiert. Die Milchwirtschaft ist somit ein fester Bestandteil sowohl der indischen wie auch der schweizerischen Kultur. Kühe gelten im Hinduismus als heilig. Sind uns Schweizern die Kühe nicht auch ein wenig heilig?
Indischer Champion auf Schweizer Ski
Heilig ist uns Schweizern sicher eines: das Skifahren. Dieses Hobby haben Schweizer Touristen nicht unbedingt im Kopf, wenn sie Indien bereisen – obwohl sich im Himalaja die höchsten Gipfel der Welt befinden. Und doch hat Indien einen Skichampion hervorgebracht: Arif Khan. Sein Vater, Besitzer eines Geschäfts für Skizubehör, brachte ihm diese in Indien kaum verbreitete Sportart bei, als er vier Jahre alt war. Mit zwölf Jahren gewann Arif Khan seine erste nationale Goldmedaille.
Der aus der Region Kashmir stammende Sportler trainiert seit 2008 auch in der Schweiz und verbessert hier seine Technik. Er wird dabei vom Schweizerischen Skiverband und von der Marke Stöckli unterstützt. Im November 2023 gewann er in Dubai als erster indischer Skifahrer einen internationalen Wettbewerb. Heute setzt er sich an seinem Geburtsort Gulmarg für die Ausbildung der nächsten Generation indischer Skiläufer ein und bereitet sich gleichzeitig auf die Olympischen Spiele 2026 in Italien vor.
Yoga – Türöffner für eine Kultur
Es ist aber – metaphorisch gesprochen – nicht zwingend nötig, in eine Luftseilbahn zu steigen, um in höhere Sphären vorzudringen. Yoga ist heute in der Schweiz fast ebenso verbreitet und beliebt wie in Indien, wo es beheimatet ist. Mit Yoga ist auch die traditionelle ayurvedische Medizin eng verknüpft. Sie vertritt einen ganzheitlichen Ansatz und befasst sich mit der Krankheitsprävention und natürlichen Heilmethoden.
Das Interesse der Schweizerinnen und Schweizer für diese alternative Medizin wird insbesondere durch die Anzahl an Suchanfragen belegt, die im vergangenen Jahr im Internet zu Ayurveda gemacht wurden: Die Schweiz hält dabei den Rekord unter allen westlichen Staaten. Die meisten ayurvedischen Behandlungen werden von der schweizerischen Grundversicherung zwar nicht übernommen, doch viele Krankenkassen decken diese über Zusatzversicherungen ab. Diese Tatsache sowie die schweizerische Tradition der Kur- und Wellnessangebote erklären, weshalb in der Schweiz zahlreiche Einrichtungen entstehen, die Ayurveda-Behandlungen anbieten. Zudem zieht es viele Schweizer Touristen nach Südindien, das auf ayurvedische Kuren spezialisiert ist.
Yoga machte nicht nur Ayurveda populär, sondern sorgte auch dafür, dass indische Instrumente in der Schweiz immer beliebter werden, darunter vor allem das Harmonium, welches in Yoga-Studios den Gesang begleitet. Ein weiteres indisches Musikinstrument, der Ghatam, inspirierte wiederum die beiden Schweizer Instrumentenbauer Felix Rohner und Sabina Schärer. Der indische Ghatam ist ein bauchiger Tontopf, der sitzend mit beiden Händen gespielt wird. Aufgrund der runden Form des Instruments kamen sie auf die Idee, zwei Halbkugeln aus Stahlblech aufeinanderzulegen. So entwickelten sie im Jahr 2000 das Hang, ein Perkussionsinstrument, das sich inzwischen auf der ganzen Welt verbreitet hat.
Es sind diese persönlichen Verflechtungen, die grossen und kleinen, und die symbolträchtigen Geschichten, die einen fruchtbaren Boden bilden, auf dem die bilateralen Beziehungen gedeihen. Das Tepa entstand aus dieser intensiven Freundschaft, die weiterhin sehr viel Potenzial für künftige, noch unbekannte Projekte der Zusammenarbeit zwischen der Schweiz und Indien aufweist. Das Abkommen wird diese Dynamik zusätzlich befeuern und die Schweiz und Indien noch viele weitere gemeinsame Erfolgsgeschichten schreiben lassen.
- Originaltitel: «Dilwale Dulhania Le Jayenge». []
Zitiervorschlag: Délèze, Jean-Baptiste; Weber, Fabienne (2024). Kurzgeschichten zweier ungleicher Freunde: Schweiz und Indien. Die Volkswirtschaft, 09. September.