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Argentinien: Das schuldengeplagte Land ändert seine Politik

Argentinien ist bekannt für aromatische Rotweine, leidenschaftlichen Tango – und für seine Schuldenkrisen. Der neue Präsident Javier Milei ist vor gut einem Jahr angetreten, um Letzteres zu ändern – mit teils unkonventionellen Methoden.
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Seine Politik polarisiert: Argentiniens ultraliberaler Staatschef Javier Milei unterzieht das Land einer Rosskur. (Bild: Keystone)

Argentinien ist reich an Bodenschätzen. Seinen Namen verdankt das Land dem lateinischen Wort «Argentum», das so viel wie Silber oder Geld bedeutet. Heute werden im Land am Río de la Plata – wie Argentinien auch genannt wird – vor allem Gold und Kupfer geschürft sowie Erdöl, Gas und seit kurzer Zeit vermehrt auch Lithium gewonnen. Über 90 Prozent der rund 1,1 Milliarden Franken an argentinischen Importen in die Schweiz betreffen Gold, das in unseren Raffinerien für den Weltmarkt veredelt wird (siehe Kasten).

Europäische Einwanderer, darunter viele Schweizer, trugen substanziell zum Wohlstand Argentiniens bei: Ab Mitte des 19. Jahrhunderts trieben sie Armut und Hunger über den Atlantik, und sie gründeten in der höchst fruchtbaren Pampa erste Agrarkolonien. In Baradero, das von ausgewanderten Freiburgern gegründet wurde, und der Walliser-Kolonie San Jerónimo Norte hat man mit dem Getreideanbau den Grundstein für die spätere Kornkammer der Welt gelegt.

Von einer Arbeits- zu einer Ausgabenkultur

Aber Argentinien hat mehr zu bieten als Bodenschätze und Agrarprodukte. Das Land ist rund 70-mal so gross wie die Schweiz, verfügt über die grösste Süsswasserreserve der Welt und beeindruckt mit majestätischen Landschaften: von den Salzwüsten im Nordosten und den spektakulären Wasserfällen von Iguazú über die Gebirgsketten der Anden bis hin zu den imposanten Gletschern Patagoniens. Buenos Aires, die kulturell und architektonisch wohl vielfältigste Hauptstadt Lateinamerikas, bietet Besuchern und Einheimischen ein breites Spektrum an Unterhaltung und Abwechslung. Die «Porteños», wie die Bewohner von Buenos Aires genannt werden, sind bekannt für ihre Lebensfreude, ihre Grosszügigkeit und ihren unterhaltsamen Charakter – und dafür, dass sie nicht selten über ihre Verhältnisse leben.

Die von europäischen und schweizerischen Einwanderern vorgelebte «Kultur der Arbeit» wurde im Laufe der Zeit teilweise durch eine «Ausgabenkultur» abgelöst, insbesondere was die staatlichen Ausgaben angeht. In seiner rund 200-jährigen Geschichte hat das Land nicht weniger als neun Staatsbankrotte erlebt. Die erste Zahlungsunfähigkeit erfolgte bereits 1827 – nur neun Jahre nach der Unabhängigkeit von Spanien. Ab den 1880er-Jahren führten eine expansive Kreditpolitik und Finanzspekulationen 1890 zum Konkurs der Banco Nacional – der argentinischen Zentralbank. Zwischen 1890 und 1892 konnte der aus der Schweiz abstammende Präsident Carlos Pellegrini daraufhin die Ausgabenexzesse zunächst abbremsen, und das Land erlebte eine goldene Zeit, die ihm bis in die 1930er-Jahre grossen Wohlstand bescherte. Es entstand das Bonmot «Reich wie ein Argentinier». Mitte des 20. Jahrhunderts führte eine schwere Dürre zu Handelsdefiziten und schliesslich zu einem erneuten Staatsbankrott. Um Argentinien 1956 aus dieser weiteren Krise zu helfen, gründeten 19 Gläubigerstaaten, darunter auch die Schweiz, den Club de Paris und stellten einen Kredit von 700 Millionen Dollar bereit. Im März 2023 unterzeichnete die Schweiz ein Abkommen mit Argentinien zur Restrukturierung der verbleibenden Schulden in Höhe von 108 Millionen Franken.

Hoffen auf Milei

Die Schweiz ist seit über 190 Jahren institutionell mit Argentinien verbunden. 1834 wurde das erste Honorarkonsulat für Handelsfragen in Buenos Aires errichtet, dessen Vertreter ein gewisser Rudolf Sprüngli war. Bis Ende Oktober dieses Jahres war ein Nachkomme dieser Familie Kabinettschef der argentinischen Aussenministerin. Heute sind 75 Schweizer Unternehmen im Land tätig, von ABB über Nestlé bis zu Zurich-Versicherung. Und die Schweiz gehört seit je zu den bedeutendsten Direktinvestorinnen (siehe Kasten). Trotz massiver Ein- und Ausfuhrbeschränkungen hat in den letzten fünf Jahren kein relevantes Schweizer Unternehmen das Land verlassen. Die in Argentinien aktiven Schweizer Firmen, wie auch Unternehmen in der Schweiz, hoffen sehr, dass die nach dem Amtsantritt des neuen Präsidenten Javier Milei eingesetzte deutliche Verbesserung der wichtigsten makroökonomischen Kennzahlen zu einem besseren Investitions- und Geschäftsklima führen wird. Um den Handel weiter zu fördern, wird es auch wichtig sein, baldmöglichst ein Freihandelsabkommen zwischen der Europäischen Freihandelsassoziation (Efta) und dem Mercosur abzuschliessen, zu dem auch Länder wie Brasilien und Argentinien gehören.

Auch wenn die Preise seit November 2023 um über 150 Prozent zugenommen haben, hat die Regierung um den ultraliberalen Staatschef Milei, der sich selbst als Anarcho-Kapitalisten bezeichnet, einiges erreicht: Innert Jahresfrist hat er auf beeindruckende Weise die monatliche Inflation von 25 auf unter 3 Prozent gedrosselt. Die Zentralbank stellte die Druckpresse zur Finanzierung des Haushaltsdefizits ein. Das Staatsbudget verzeichnet – erstmals seit 15 Jahren – ab April 2024 wieder einen Fiskalüberschuss von rund 1,5 Prozent. Dies ist möglich dank der Auflösung von staatlichen Institutionen (Halbierung der Anzahl der Ministerien), gekürzten Subventionen und der Sistierung der meisten öffentlichen Bauprojekte. Die Zentralbank verfügt wieder über Reserven von über 30 Milliarden Dollar, und wegen der Inflationseindämmung und der Zinsreduktion vergeben erstmals seit fünf Jahren Geschäftsbanken wieder Kredite an Privatpersonen und KMU. Diese Massnahmen haben auch dazu geführt, dass die Differenz zwischen dem offiziellen und dem informellen Wechselkurs von 180 Prozent auf unter 10 Prozent gesunken ist, was zeigt, dass Wirtschaftsakteure und Konsumentinnen wiederum vermehrt Vertrauen in die eigene Währung haben. Das Länderrisiko, welches das Kreditausfallrisiko des argentinischen Staats bewertet, ist von 1500 Punkten auf 700 zurückgegangen.[1] Das weckt Hoffnungen auf frisches Kapital. Zugleich befindet sich die Wirtschaft in einer Rezession. Gemäss offiziellen Zahlen lebt rund die Hälfte der Bevölkerung unter der Armutsgrenze.

Schuldengeplagte Geschichte

Mit der laufenden Rosskur und der Deregulierung der Wirtschaft hat Milei eine gewisse Glaubwürdigkeit erreicht. Damit aber Vertrauen in den Staat und insbesondere in die Finanzinstitutionen zurückkehrt, bedarf es noch viel Zeit. Zu verheerend waren die Auswirkungen von Misswirtschaft, Korruption und schlechter Regierungsführung seit der Präsidentschaft von Juan Perón ab Mitte des 20. Jahrhunderts auf die Wirtschaft und die soziale Lage der Bevölkerung.

Sinnbild dieser Politik sind die Zahlungsausfälle des argentinischen Staats in den 1980er- und 1990er-Jahren. Sie haben die nationalen sowie internationalen institutionellen und privaten Kreditgeber tief geprägt. Unvergessen ist auch die weltweit wohl grösste Zahlungsunfähigkeit Ende 2001, als Argentinien Kredite im Umfang von 96 Milliarden Dollar nicht mehr bedienen konnte. Der Grund dafür war damals, dass sich Argentinien von der zehn Jahre lang praktizierten 1:1-Anbindung an den Dollar verabschiedet hatte. In der Folge kam es zu einer Rezession. Erst ab Mitte 2002 erholte sich die Wirtschaft, und 2003 erreichte das Wirtschaftswachstum fast 9 Prozent. Ab 2004 vermochte Argentinien seinen Verpflichtungen gegenüber den multilateralen Gläubigern wie der Weltbank und dem Internationalen Währungsfonds (IWF) nachzukommen.

Aufgrund dieser einschlägigen Erfahrung mit Auslandschulden wurde 2005 das Museo de la Deuda Externa (Museum für Aussenschulden) ins Leben gerufen, das an der Universität von Buenos Aires angesiedelt ist und sowohl Studierenden als auch Besucherinnen als Lehrstück dienen soll. 2023 betrug die Schuldenquote des argentinischen Gesamtstaats 155 Prozent, Ende Oktober 2024 beliefen sich die Schulden des öffentlichen Sektors (ohne Zentralbank) auf rund 465 Milliarden Dollar, das entspricht rund 74 Prozent des BIP. Sollte das Länderrisiko weiter auf unter 600 Punkten zurückgehen und der reale langfristige Zinssatz bei 5 Prozent verharren, könnte bei einem anhaltenden primären Haushaltsüberschuss von rund 1,3 bis 1,7 Prozent des BIP die Auslandsschuld Argentiniens nachhaltig bedient werden.[2]

Investitionen in Energie und Bergbau

Die gegenwärtige Regierung wird es aber nicht nur bei den Ausgabenkürzungen belassen. Insbesondere im Rahmen des Grossinvestitionsförderungsprogramms Rigi wird sie auch versuchen, umfassende Infrastrukturprojekte zu realisieren. Dieses Programm dient für Investitionen von über 200 Millionen Dollar in strategischen Sektoren, vor allem im Energie- und Bergbauwesen. Dadurch könnte das immense und ungenutzte Potenzial des Landes nachhaltig erschlossen und ausgeschöpft werden, was langfristig zu neuem Wohlstand am Río de la Plata führen soll.

Bei meinen frühmorgendlichen Spaziergängen durch die weitläufigen Parkanlagen von Palermo – einem der schönsten Stadtviertel von Buenos Aires – fühle ich mich unter dem strahlend blauen, leicht gewölbtem Himmel wie unter einer schützenden Kuppel. Diese Momente stimmen mich zuversichtlich, dass Argentinien von Kriegen und Katastrophen, die derzeit andere Weltregionen erschüttern, verschont bleibt und den Weg aus seiner Wirtschaftskrise finden könnte.

  1. Daten basierend auf Angaben von Berichten des Wirtschaftsministeriums. []
  2. Berechnungen der Universität UCEMA basierend auf Zahlen der Zentralbank und des nationalen statistischen Amts. []

Zitiervorschlag: Bortis, Hans-Ruedi (2025). Argentinien: Das schuldengeplagte Land ändert seine Politik. Die Volkswirtschaft, 14. Januar.

Serie: Blick in die Welt Neu

Neugierig, was dieses oder jenes Land auszeichnet und mit der Schweiz verbindet? Schweizer Botschafterinnen und Botschafter im Ausland stellen ihr Gastland vor.

Staffel 1 widmet sich dem Thema «Staatsschulden» – von überraschend niedrigen bis zu extrem hohen. Monat für Monat nehmen wir Sie mit in ein neues Land. Bereits erschienen: Schweden. Es folgen Kenia und Singapur.

Argentina Flag Argentinien in Zahlen (2023)
Einwohner (Wachstum)a 45,5 Mio. (+0,3%)
Währung Argentinischer Peso (ARS)
BIP pro Kopfb (kaufkraftbereinigt) 29’335 $ (CH: 93’054 $)
BIP-Wachstumb –1,6% (CH: +0,7%)
Arbeitslosenrateb 6,1% (CH: 2,0%)
Schweizer Direktinvestitionen in Argentinien (2022)c 5,2% aller ausländischen Direktinvestitionen (Rang 5)
Argentinische Direktinvestitionen in der Schweiz (2022)c 0% aller argentinischen Direktinvestitionen im Ausland (Rang 16)
Schweizer Exporte als Anteil aller Importe Argentiniensc 0,7% (Rang 23)
Argentinische Exporte als Anteil aller Importe der Schweizc 0,3% (Rang 45)
Schweizer Warenimporte aus Argentinienc Edelmetalle (93,5%), landwirtschaftliche Produkte (5,5%), Maschinen (0,3%)
Schweizer Exporte nach Argentinienc Chemie und Pharma (78,5%), Maschinen (9,5%), Präzisionsinstrumente, Uhren und Bijouterie (5,9%)
Schuldenquote Gesamtstaatb 155,4% (CH: 31,9%)

a Weltbank, b IWF, World Economic Outlook, Oktober 2024, c IWF, (Stand: 14.1.2025)