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Wirtschaft und Recht als Maturitätsfach für alle

Seit 2024 ist Wirtschaft und Recht an Schweizer Gymnasien ein Maturitätsfach, das gleichwertig ist mit Geschichte oder Physik. Dieser Meilenstein ist das Ergebnis jahrzehntelanger Debatten.
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Angebot und Nachfrage auf einem Markt: Wie sich Preise bilden, lernen neu alle Maturandinnen und Maturanden. (Bild: Keystone)

Die wirtschaftliche Bildung ist seit Jahrzehnten vollwertiger Teil der Allgemeinbildung – zumindest im wissenschaftlichen Diskurs. In Schweizer Gymnasien hat sich diese Einsicht jedoch erst mit der Maturitätsreform 2024 voll durchgesetzt: Mit dem revidierten Maturitätsanerkennungsreglement (MAR) 2023, das Anfang August 2024 in Kraft trat, wird das Fach Wirtschaft und Recht zu einem gleichwertigen Grundlagenfach mit Maturitätsnote aufgewertet.

Lange gestanden viele Akteurinnen und Akteure rund um das Gymnasium der wirtschaftlichen Bildung nur eine berufsvorbereitende Funktion zu, die nicht Aufgabe des Gymnasiums sei. Kritiker argumentierten, sie fördere ein einseitig auf Gewinnmaximierung ausgerichtetes Denken, das dem humanistischen Bildungsideal widerspreche. Dennoch boten einige Schulen bereits vor 1972 das Freifach Wirtschaftskunde an.

Mit der Revision der Maturitätsanerkennungsverordnung 1968 (MAV 68) im Jahre 1972 entstand der Maturitätstyp E – das Wirtschaftsgymnasium –, die Wirtschaftswissenschaften wurden als Typenfach eingeführt.[1] Zunächst galt dieses als besondere Vorbereitung auf die entsprechenden universitären Studiengänge der stark wachsenden Wirtschaftswissenschaften. Auch wirtschaftskritische Kreise erkannten zunehmend an, dass die Wirtschaftswissenschaften objektives Wissen über wirtschaftliche Zusammenhänge vermitteln. Sie galten nicht mehr nur als Kaderschmieden für Unternehmungen.

Ein weiterer Meilenstein folgte 1995 mit dem neuen Maturitätsanerkennungsreglement (MAR). Geschichte und Geografie wurden zum Integrationsfach Geistes- und Sozialwissenschaften zusammengeschlossen, und dieses wurde mit einer Einführung in Wirtschaft und Recht ergänzt. Mit der kleinen Revision des MAR von 2007 wurde dieser Zusammenschluss wieder aufgelöst und die Einführung in Wirtschaft und Recht in ein obligatorisches, eigenständiges Fach umgewandelt, das jedoch ohne Maturitätsnote blieb – ohne stichhaltige pädagogische Begründung.[2] Diese fehlende Anerkennung wirkte sich negativ auf die Unterrichtszeit aus. In den meisten Kantonen beschränkte sie sich weiterhin auf ein aus wissenschaftlicher Sicht ungenügendes Minimum: meist nur eine halbe bis drei Jahreswochenstunden.[3]

Studien belegen Wissens- und Könnenslücken

Die Nationalfonds-Studie «Oekoma»[4] zeigte, dass Maturandinnen und Maturanden, die nur die obligatorische Einführung in Wirtschaft und Recht besucht hatten, bei den ökonomischen Kompetenzen erhebliche Wissens- und Könnenslücken aufwiesen (siehe Abbildung 1). Sie waren in den durchgeführten Tests oft nicht in der Lage, wirtschaftliche Fragestellungen aus Medien wie der NZZ oder dem «Tages-Anzeiger» richtig zu verstehen oder sachliche Lösungen zu entwickeln. Sie erzielten sogar tiefere Werte als Berufsmaturandinnen und -maturanden nicht kaufmännischer Ausrichtungen, die ebenfalls nur ein allgemeinbildendes Fach Wirtschaft und Recht besucht hatten.[5] Von Defiziten bei der wirtschaftlichen Bildung in Gymnasien berichten auch Befragungen von ehemaligen Maturandinnen und Maturanden.[6]

Abb. 1: Maturandinnen und Maturanden ohne Schwerpunktfach Wirtschaft und Recht weisen Defizite bei ökonomischen Kompetenzen auf (2011)

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Anmerkung: Mittelwert = 500; Standardabweichung = 100. Es wurden Verständnis- und Problembearbeitungsaufgaben zu wirtschaftlichen Fragestellungen aus Medien wie der NZZ oder dem «Tages-Anzeiger» gestellt. Die wirtschaftlichen Fragestellungen wurden in einer umfassenden Medienanalyse ermittelt.
Quelle: Eberle und Schumann (2013), S. 20 / Die Volkswirtschaft

Keine vertiefte Gesellschaftsreife und unvollständige allgemeine Studierfähigkeit ohne ökonomische Kompetenzen

Mit dem neuen MAR 2023 wird das Fach Wirtschaft und Recht ein gleichwertiges Grundlagenfach mit einer Note im Maturitätszeugnis. Das Bildungsziel des Gymnasiums bleibt dabei unverändert: «Ziel des Maturitätslehrgangs ist es, dass die Maturandinnen und Maturanden über jene persönliche Reife verfügen, die Voraussetzung für ein Hochschulstudium ist und die sie auf anspruchsvolle Aufgaben in der Gesellschaft vorbereitet.»[7] In den kommentierenden Dokumenten verwendet man auch die Begriffe allgemeine Hochschulreife bzw. allgemeine Studierfähigkeit und vertiefte Gesellschaftsreife.[8]

Anspruchsvolle Aufgaben in der Gesellschaft haben fast immer auch ökonomische Aspekte. Ungenügendes ökonomisches Wissen und Können birgt nicht nur das Risiko von privaten, sondern auch von gesellschaftlichen Fehlentscheidungen. Das betrifft in einer Demokratie sowohl das Stimm- und Wahlverhalten als auch die Entscheidungen politischer Mandatsträger. Neuere Studien ordnen ökonomische Kompetenzen gar den 21st Century Skills zu.[9] Das sind Fähigkeiten und Kompetenzen, die für den Erfolg in der heutigen Welt und im Berufsleben unerlässlich sind. Aber auch der Neuhumanist von Humboldt würde wohl heute wirtschaftliches Allgemeinwissen zu den inhaltlichen Bereichen allgemeinbildenden Unterrichts zählen.[10]

Auch für die allgemeine Studierfähigkeit sind ökonomische Kompetenzen relevant. Sie erleichtern deutlich die Aufnahme eines Studiums der Wirtschaftswissenschaften, wie die Evamar-II-Studie gezeigt hat.[11] Eine andere Studie zeigt die Erfolgsquote von Studierenden in Wirtschaftswissenschaften nach Schwerpunktfach im Gymnasium (siehe Abbildung 2). Die höchsten Erfolgsquoten erzielen Studierende mit dem Schwerpunktfach Wirtschaft und Recht (70 Prozent) sowie Physik und Anwendungen der Mathematik (73 Prozent). Letztere können Defizite beim wirtschaftlichen Vorwissen und -können mittels ihrer höheren Mathematikkompetenzen[12] kompensieren, die ebenfalls besonders wichtig für die Wirtschaftswissenschaften sind. Alle anderen, weniger erfolgreichen Schwerpunktfach-Gruppen hatten grösstenteils eine ungenügende wirtschaftliche Bildung am Gymnasium.

Abb. 2: Der Studienerfolg in Wirtschaftswissenschaften ist bei ehemaligen Maturanden mit Schwerpunktfach Wirtschaft und Recht hoch (2020)

INTERAKTIVE GRAFIK
Anmerkung: Studienerfolg bis 2020 in Wirtschaftswissenschaften an universitären Hochschulen, Eintritte 2012–2015, nach Schwerpunktfach-Gruppen.
Quelle: Eberle (2025), S. 25 / Die Volkswirtschaft

Ausreichende Stundenzahl wichtig

Das Fundament für eine angemessene wirtschaftliche Bildung am Gymnasium ist mit dem neuen MAR 2023 gesetzt. Es ist zu hoffen, dass mit der Umsetzung das Grundlagenfach Wirtschaft und Recht ausreichend Unterrichtszeit erhält – idealerweise gleich viel wie andere sogenannte Sachfächer, mindestens aber das wissenschaftlich gut begründete Minimum von vier Jahreswochenstunden.[13] Und es liegt nahe, dass das erfolgreiche Schwerpunktfach Wirtschaft und Recht erhalten bleiben sollte.

  1. Der Wirtschaftspädagoge Rolf Dubs (1968) wies in seiner Habilitationsschrift die Gymnasialwürdigkeit wirtschaftlicher Bildung und die Passung eines Typus E in die gymnasiale Bildungslandschaft überzeugend nach. []
  2. Siehe Eberle (2006). []
  3. Siehe die Argumentation in Eberle (1999 und 2006). []
  4. Siehe Eberle und Schumann (2013). []
  5. Siehe Eberle und Schumann (2013). []
  6. Siehe zum Beispiel Blöchliger et al. (2020). []
  7. Siehe Artikel 6 des Maturitätsanerkennungsreglements (MAR). []
  8. Erstmals in Eberle et al. (2008). Ausführlich in Eberle und Brüggenbrock (2013). []
  9. Siehe Jüttler et al. (2025). []
  10. Siehe im Detail bei Eberle (2014). []
  11. Siehe Eberle et al. (2008). []
  12. Siehe Eberle et al. (2008). []
  13. Siehe Eberle (1999 und 2006). []

Literaturverzeichnis
  • Blöchliger, O., Gerhard, S. und S. Bayard (2020). Übergänge an die Hochschule Ausbildungsstand und Bildungsverläufe der Zürcher Maturandinnen und Maturanden. Bildungsdirektion Kanton Zürich.
  • Dubs, R. (1968). Das Wirtschaftsgymnasium – Ein Beitrag zu den Problemen eines neuen Mittelschultypus aus schweizerischer Sicht. Polygraphischer Verlag AG.
  • Eberle, F. (1999). Die Probleme mit dem neuen Grundlagenfach «Wirtschaft und Recht» – oder ein Beispiel verwässerter Innovationen am Gymnasium. Gymnasium Helveticum, 1, 16–23.
  • Eberle, F. (2006). Zur Bedeutung von Wirtschaft und Recht in der gymnasialen Bildung. Gymnasium Helveticum, 60(3), 16–23.
  • Eberle, F. (2014). Aktuelle Herausforderungen an das Gymnasium. Grundsätzliche Überlegungen vor dem Hintergrund des neuhumanistischen Bildungsideals. AMV, Sonderheft «Humanistische Bildung? Auslaufmodell oder wieder zu entdeckendes Orientierungssystem für das Gymnasium?»,1, 9–13.
  • Eberle, F. (2019). Das Gymnasium – modern oder altbacken? Zur Zukunft der gymnasialen Matura. Gymnasium Helveticum d, 73(1), 6–10.
  • Eberle, F. (2025). Studienerfolg und Studienabbruch an Hochschulen. Bern: Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation SBFI.
  • Eberle, F. und Ch. Brüggenbrock (2013). Bildung am Gymnasium. EDK-Schriftenreihe «Studien + Berichte». Schweizerische Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren.
  • Eberle, F. et al. (2008). Evaluation der Maturitätsreform 1995. Schlussbericht zur Phase II. Bern: Staatssekretariat für Bildung und Forschung SBF.
  • Eberle, F. und S. Schumann (2013). Ökonomische Kompetenzen und weitere Kompetenzen von Deutschschweizer Berufsmaturanden und Gymnasiasten im Vergleich. Gymnasium Helveticum, 67(1), 18–21.
  • Jüttler, M. et al. (2025). Economic Competencies as Part of 21st Century Skills and Their Relevance to Predicting the Choice of a Study Program. Citizenship, Social and Economics Education.

Bibliographie
  • Blöchliger, O., Gerhard, S. und S. Bayard (2020). Übergänge an die Hochschule Ausbildungsstand und Bildungsverläufe der Zürcher Maturandinnen und Maturanden. Bildungsdirektion Kanton Zürich.
  • Dubs, R. (1968). Das Wirtschaftsgymnasium – Ein Beitrag zu den Problemen eines neuen Mittelschultypus aus schweizerischer Sicht. Polygraphischer Verlag AG.
  • Eberle, F. (1999). Die Probleme mit dem neuen Grundlagenfach «Wirtschaft und Recht» – oder ein Beispiel verwässerter Innovationen am Gymnasium. Gymnasium Helveticum, 1, 16–23.
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  • Eberle, F. et al. (2008). Evaluation der Maturitätsreform 1995. Schlussbericht zur Phase II. Bern: Staatssekretariat für Bildung und Forschung SBF.
  • Eberle, F. und S. Schumann (2013). Ökonomische Kompetenzen und weitere Kompetenzen von Deutschschweizer Berufsmaturanden und Gymnasiasten im Vergleich. Gymnasium Helveticum, 67(1), 18–21.
  • Jüttler, M. et al. (2025). Economic Competencies as Part of 21st Century Skills and Their Relevance to Predicting the Choice of a Study Program. Citizenship, Social and Economics Education.

Zitiervorschlag: Eberle, Franz (2025). Wirtschaft und Recht als Maturitätsfach für alle. Die Volkswirtschaft, 02. Juni.