Junges Nigeria – Fluch oder Segen?
Die Bevölkerung in Nigeria ist jung – und sie wächst. Jugendliche im Vintage-Africana-Museum in Lagos. (Bild: Keystone)
Mitte April in Maiduguri im Nordosten Nigerias. «Wie viele Kinder haben Sie?», frage ich den lokalen Projektpartner. «Einige», antwortet er lächelnd. «Wie viele?» – «Dreizehn. Von drei Frauen», sagt er. Und das sei noch nicht das Ende der Fahnenstange, er sei noch jung.
Zwei Gesichter des jungen Nigeria: Unternehmertum und Armut
Gleichentags besuche ich mit Vertreterinnen und Vertretern der UNO und von lokalen Organisationen ein Camp für Vertriebene. Rund 100’000 Menschen sind dort untergekommen auf der Flucht vor den bewaffneten Gruppen JAS[1] und ISWAP[2]. Es ist eng in dieser Zeltstadt, und aus jedem Zelt winken mir acht oder zehn Kinder zu. Wie wird es hier in einigen Jahren ausschauen, wenn diese Kinder selbst Kinder haben?
Zwei Wochen zuvor. Mein erster öffentlicher Auftritt in Abuja, der ruhigen Hauptstadt Nigerias. Seit Anfang März arbeite ich hier als Schweizer Botschafter. Die Tony Elumelu Foundation – eine der bedeutendsten privaten Förderinstitutionen in Afrika – zeichnet an diesem Tag 3000 Start-up-Jungunternehmerinnen und -unternehmer aus. Und das ist nur die Spitze des Talenteisbergs. Mit einem kleinen Startkapital, etwas Coaching und viel Enthusiasmus bauen sie ihr eigenes Business auf. 100 Millionen US-Dollar hat die Stiftung in den letzten zehn Jahren in 21’000 Jungunternehmerinnen und -unternehmer aus Afrika investiert. Die meisten von ihnen stammen aus Nigeria.
Anfang Mai in Lagos. Es ist laut, bunt und chaotisch in der 30-Millionen-Metropole, der Heimat von Petrodollars, Tech-Unternehmen und Containerhäfen. Von hier aus erobern Afrobeat und Nollywood die Welt. Ich bin zum Interview eingeladen bei Wazobia FM, einer jungen, frechen Radiostation, die in Pidginenglish[3] sendet. Ein unternehmerisches Kalkül, denn damit wird die breite Bevölkerung erreicht. Die gleiche Radiostation hat auch einen Nachrichtensender, einen Livemusiksender und neu einen Kindersender. Der Puls ist jung hier in Lagos. Die Radiostation ist Teil eines Unternehmenskonglomerats in libanesisch-schweizerischem Familienbesitz. Auch eine IT-Firma, eine Baufirma und eine Konditorei gehören dazu. Give me idea, we go run am! Was so viel heisst wie: Aus jeder guten Idee mache ich ein Business. Sprudelnde Geschäftsideen und junges Unternehmertum auf der einen, grassierende Armut wie im Zeltlager auf der anderen Seite. Zwei Gesichter des jungen Nigeria.
Jugend als treibende Kraft
Nigeria ist mit 230 Millionen Menschen das bevölkerungsreichste Land Afrikas. 70 Prozent der Bevölkerung sind unter 30 Jahre, 40 Prozent unter 15 Jahre alt. Der Median liegt gerade mal bei 18 Jahren – in der Schweiz liegt er bei 43 Jahren. Schätzungen zufolge dürfte die Bevölkerung Nigerias bis 2050 auf über 400 Millionen anwachsen.
Das hohe Wachstum ist weitgehend kulturbedingt: Polygamie ist weitverbreitet, nicht nur bei der muslimischen Mehrheit, der Hausa, sondern auch bei der Ethnie der Yoruba im Südwesten. Die Igbo aus dem Niger-Delta, die dritte grosse Ethnie in Nigeria, sind Christen und praktizieren offiziell keine Polygamie. Jedoch können nur Männer Eigentum erwerben oder erben. Es braucht also mindestens einen Stammhalter in der Familie, lieber mehrere. Und für die arme Landbevölkerung – und das ist immer noch die Mehrheit – sind Kinder weiterhin günstige Arbeitskräfte und die Lebensversicherung im Alter.
Die Folgen dieser Bevölkerungsentwicklung sind vielschichtig
Eine wachsende Bevölkerung bedeutet einen grösseren Markt und mehr Arbeitskräfte für eine wachsende Wirtschaft. Der Konkurrenzkampf ist hart in Nigeria. Die meisten sind gezwungen, ihr Glück auf eigene Faust zu versuchen. Als Selfmadeunternehmer, Onlinevermarkter oder auch als Tagelöhner. Das junge Nigeria ist kreativ und «street smart». Wo sich Chancen ergeben, werden diese genutzt und weiterentwickelt. Wo sie fehlen, wie im wirtschaftlich unterentwickelten Norden, verschärft das Bevölkerungswachstum die Verarmung und die Gewaltspirale.
Das Bevölkerungswachstum kann langfristig den Zusammenhalt von Nigeria auf die Probe stellen. Eine wichtige Konfliktlinie verläuft zwischen dem muslimischen Norden, welcher heute eine knappe Bevölkerungsmehrheit stellt, und dem christlich geprägten Süden. Das stärkere Bevölkerungswachstum im Norden schürt im Süden Ängste vor einer politischen Dominanz durch den Norden. Durch eine wechselnde Präsidentschaft wird versucht, einen politischen Ausgleich zwischen den beiden Regionen herzustellen.
Kurzfristig kann sich das junge Nigeria politisch stärker manifestieren. Ein Youthquake – ein politisches Beben, ausgelöst durch junge Menschen –, wie ich es auf meinem letzten Posten in Kenia[4] erlebt habe, ist auch in Nigeria möglich. Es gilt: je grösser die Unzufriedenheit, desto grösser das Beben. Bei den letzten Wahlen im Jahr 2023 gab es ein Vorbeben, leise und gewaltfrei. Getragen vom jungen Nigeria, unterlag der Oppositionkandidat Peter Obi dem Kandidaten der politischen Elite, Präsident Tinubu, nur knapp. Im Februar 2027 finden wieder Wahlen statt.
Schweiz setzt auf Berufsbildung
Und was macht die Schweiz? Sie investiert in die Berufsbildung junger Nigerianerinnen und Nigerianer. Gemeinsam mit der deutschen Entwicklungshilfe GIZ fördert die Schweiz die duale Berufsbildung in mehreren Regionen. Rund 30’000 Jugendliche haben bisher davon profitiert. Der Bund unterstützt auch die Berufsbildung der Unternehmen Bühler und Nestlé in Nigeria. Beide bilden mehr Fachkräfte aus, als sie selbst anstellen können, und stärken so auch den Arbeitsmarkt. Das ist ein Tropfen auf den heissen Stein, aber ein entscheidender. Denn er zeigt den nigerianischen Partnern, wie sie das riesige Potenzial ihrer Jugend besser nutzen können.
Es liegt an Nigeria, die richtigen sozial-, wirtschafts- und bildungspolitischen Reformen einzuleiten, damit echte Chancen für die Jugend entstehen. Denn das junge Nigeria will Träume leben, nicht Albträume.
- JAS (Jama’atu Ahlis Sunna Lidda’awati wal-Jihad) ging aus Boko Haram hervor. []
- ISWAP steht für Islamic State Western Africa Province. []
- Pidginenglish ist eine Art Dialekt. Englisch mit portugiesischen und französischen Elementen, enstanden als einfache Alltagssprache an den Häfen und untern Händlern. []
- Siehe auch den Artikel Guiletti, M. (2025). Kenia: Ist die Staatsverschuldung Bremse oder Motor für einen Wandel? Die Volkswirtschaft, 13. Februar, aus der ersten Staffel der Serie «Blick in die Welt». []
Zitiervorschlag: Egloff, Patrick (2025). Junges Nigeria – Fluch oder Segen? Die Volkswirtschaft, 10. Juli.
Neugierig, was dieses oder jenes Land auszeichnet und mit der Schweiz verbindet? Schweizer Botschafterinnen und Botschafter im Ausland stellen ihr Gastland vor.
Staffel 2 widmet sich dem Thema «Demografie». Monat für Monat nehmen wir Sie mit in Länder mit junger, alternder oder gealterter Bevölkerung. Bereits erschienen: Vietnam und Nigeria. Es folgen Italien und Guatemala.
| Einwohner (Wachstum)a | 232,7 Mio. (+2,1%) |
| Währung | Naira (NGN) |
| BIP pro Kopfb kaufkraftbereinigt: nominal: |
6580 $ (CH: 94’937 $) 824 $ (CH: 104’523 $) |
| BIP-Wachstumb | 3,4% (CH: 1,3%) |
| Arbeitslosenrate gemäss ILO-Modella | 3,0% (CH: 4,1%) |
| Schweizer Direktinvestitionen in Nigeriac (2023) | 256 Mio. Franken |
| Nigerianische Direktinvestitionen in der Schweiz (2022) | 15 Mio. Franken |
| Schweizer Exporte als Anteil aller Importe Nigeriasd (nur Waren, provisorische Zahlen) |
0,3% (Rang 38) |
| Nigerianische Exporte als Anteil aller Importe der Schweizd (nur Waren, provisorische Zahlen) |
0,2% (Rang 56) |
| Schweizer Warenimporte aus Nigeriae | Energieträger (74,1%), Edelmetalle, Edel- und Schmucksteine (25,4%), Land- und Forstwirtschaftliche Produkte (0,2%) |
| Schweizer Warenexporte nach Nigeriae | Chemie und Pharma (39%), Maschinen (25,7%), Uhren und Bijouterie (9,3%) |
| Bevölkerungsanteilea (2023) 0–14 Jahre 15–64 Jahre 65+ |
41,0% (CH: 15,0) 56,0% (CH: 65,4) 3,0% (CH: 19,6) |
a Weltbank b IWF (2025). World Economic Outlook, April. c SNB d IWF e Bundesamt für Zoll und Grenzsicherheit / Stand: 10.07.2025