Vietnam: Reich werden, bevor man alt wird
Papiermasken fürs Mittherbstfest: Wer in Vietnam über 50 ist, erinnert sich noch an Kriege, Hunger und Planwirtschaft. (Bild: Keystone)
Lan steht im kleinen Hof ihres Hauses am Rande von Hanoi, ihre Tochter auf der Hüfte, ihr Sohn spielt mit einem Plastiktraktor. Vor fünf Jahren hat Lan ihren Job in der Bekleidungsfabrik gekündigt. Mit ihren Ersparnissen baute sie zusammen mit ihrer Familie eine kleine Baumplantage auf. Sie wollte die Bäume für das vietnamesische Neujahrsfest verkaufen. Doch im September 2024 fegte der Taifun Yagi über Nordvietnam und zerstörte ihre gesamte Investition an einem einzigen Tag. Jetzt hat Lan ein grosses Problem: Ihr Vater kann wegen Rückenschmerzen nicht mehr arbeiten, ihre Mutter verliert die Sehkraft. Lan steht nun mit zwei kleinen Kindern und alternden Eltern vor der Frage, wie es weitergeht. «Die Zeit drängt», sagt sie leise. «Wenn wir jetzt nicht vorankommen, werden wir es vielleicht nie.»
Diese persönliche Geschichte ist kein Einzelfall, sondern die gelebte Realität von Millionen Vietnamesen. Sie steht für den Wettlauf Vietnams, das Land von einem mittleren Einkommensniveau am unteren Rand zu einer modernen Wirtschaft zu führen, bevor die demografische Schere sich weiter öffnet.
Der ungewöhnliche Aufstieg einer Nation
Wer in Vietnam älter als 50 Jahre ist, erinnert sich an Hungersnöte, Kriege und gescheiterte zentrale Wirtschaftsplanung. Doch seit den Doi-Moi-Reformen von 1986 hat das Land enorme Fortschritte gemacht. Aus einem der ärmsten Länder der Welt wurde eine Erfolgsgeschichte.
In den letzten 40 Jahren hat Vietnam eine exportorientierte, global stark integrierte Wirtschaft aufgebaut, Armut reduziert und in Bildung und Infrastruktur investiert. Aber nun steht Vietnam vor einer neuen Herausforderung. Mit einem Bruttoinlandprodukt pro Kopf von ungefähr 16’335 US-Dollar (kaufkraftbereinigt) und einer zentralen Rolle in den globalen Lieferketten droht es in die «Falle der mittleren Einkommen» zu geraten. Ohne tiefgreifende Reformen könnte es schwer werden, den Übergang zu innovationsgetriebenem Wirtschaftswachstum zu schaffen.
Vietnam profitiert derzeit von einem demografischen Bonus: Es gibt viele Menschen im erwerbsfähigen Alter verglichen mit der Zahl Kinder und älterer Menschen. Diese Phase begann in den 2010er-Jahren. Vietnam hat aber eine der am schnellsten alternden Bevölkerungen Asiens. 2019 waren rund 12 Prozent der Bevölkerung über 60 Jahre alt. Bis 2035 wird der Anteil auf über 25 Prozent steigen (siehe Abbildung). Es wird zunehmend schwierig, den Vorteil der Bevölkerungsdividende aufrechtzuerhalten.
«Zeitalter des Aufstiegs»: Strategie oder Slogan?
Die vietnamesische Führung hat ein sogenanntes Zeitalter des Aufstiegs ausgerufen, eine langfristige strategische Agenda. Bis 2045 soll Vietnam von einem Land mit mittlerem Einkommen zu einer hoch entwickelten, modernen Wirtschaft werden. Dabei setzt Vietnam auf eine Integration in die globalen Märkte – bislang sehr erfolgreich.
Mit der Schweiz und den anderen drei Efta-Staaten schreiten die Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen nur langsam voran. Doch Vietnam hat bereits mehrere moderne Handelsabkommen abgeschlossen. Zum Beispiel das Comprehensive and Progressive Agreement for Trans-Pacific Partnership (CPTPP) mit Ländern wie Australien, Kanada und Chile, die Regional Comprehensive Economic Partnership (RCEP) mit den südostasiatischen Staaten sowie Ländern wie Australien, China, Japan und Südkorea. Oder auch das Freihandelsabkommen mit der Europäischen Union (EVFTA). Diese Abkommen öffnen den Zugang zu wichtigen Märkten und stärken Vietnams geopolitische Position.
Die Welt ist geprägt von wachsenden Handelskonflikten und zunehmendem Einsatz von «De-Risking»-Strategien, mit denen westliche Unternehmen versuchen, ihre Abhängigkeit von riskanten Märkten und Lieferketten zu reduzieren. Vietnam hat sich als bevorzugtes Ziel für Unternehmen etabliert, die neben China ein zweites Bein in Asien suchen. Um diese Chance langfristig zu nutzen, muss die Regierung nun auch schwierigere Herausforderungen angehen. Sie will die regulatorische Transparenz verbessern, internationale Standards einhalten und die Abhängigkeit von einzelnen Handelspartnern verringern. Die Schweiz unterstützt Vietnam dabei mit Programmen des Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco).
Der Anteil über 64-Jähriger in Vietnam wird in Zukunft stark steigen
INTERAKTIVE GRAFIK
Fit für die Zukunft
Um die Bevölkerungsdividende voll auszuschöpfen, muss Vietnam jedoch seine Arbeitskräfte zukunftsfähig machen. Das heisst, Bildung und Berufsausbildung stärker auf digitale und grüne Berufe sowie den Dienstleistungssektor ausrichten. Höhere Bildung sollte Kreativität, Anpassungsfähigkeit und angewandte Forschung fördern. Gleichzeitig muss die Ausbildung auf die neuen Arbeitsanforderungen abgestimmt werden, und lebenslanges Lernen muss zu einem festen Bestandteil des Bildungssystems werden.
Vietnam muss die Produktivität seiner Arbeitskräfte erhöhen. Das bedeutet, kleine und mittlere Unternehmen zu modernisieren, Forschung und Entwicklung zu fördern und die digitale Transformation voranzutreiben. Es reicht nicht, einfach mehr Arbeitende in die Produktion einzubinden. Jeder Einzelne muss produktiver werden.
Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Rolle der Frauen auf dem Arbeitsmarkt. Viele Frauen sind zwar berufstätig, steigen aber aufgrund familiärer Verpflichtungen früh aus dem Berufsleben aus. Politische Prioritäten sollten die Erweiterung der Kinderbetreuungsinfrastruktur und die Förderung von Frauen in Führungspositionen und Unternehmertum umfassen.
Dazu kommt, dass das Rentensystem Vietnams nur einen Teil der Bevölkerung abdeckt. Mit einer alternden Gesellschaft wird der Druck auf die informellen Pflege- und Gesundheitssysteme steigen. Um den Bedürfnissen der älteren Bevölkerung gerecht zu werden, muss die Regierung dringend für eine nachhaltige Finanzierung der Renten sorgen und die Altenpflege professioneller gestalten.
Die Bevölkerungsdividende: Ein Darlehen, das zurückgezahlt werden muss
Vietnam hat in Rekordzeit ein starkes Wirtschaftswachstum erreicht. Doch der wahre Test besteht nun darin, ob sich das Land transformieren und die Bevölkerungsdividende in langfristige wirtschaftliche Stärke umwandeln kann. Die Regierung weiss, dass die Bevölkerungsdividende kein Geschenk ist, sondern ein Darlehen, das mit Innovation, Gleichberechtigung und tiefgreifenden Reformen zurückgezahlt werden muss.
Wenn Vietnam diesen Wandel erfolgreich meistert, kann es als moderne, inklusive und widerstandsfähige Wirtschaft auf der internationalen Bühne auftreten. Davon würde nicht nur die eigene Bevölkerung, sondern auch die internationalen Handelspartner profitieren – darunter auch die Schweiz.
Literaturverzeichnis
- Bevölkerungsfonds der Vereinigten Nationen – UNFPA (2025). Ageing Viet Nam.
- Do Khuong Manh, L. (2025). Kann Vietnams «Zeitalter des Aufstiegs» die Falle der mittleren Einkommen überwinden? East Asia Forum, März.
- Staatssekretariat für Wirtschaft (2025). Vietnam Cooperation Programme 2025–2028.
- Weltbank (2021).Vietnam: Adapting to an Aging Society.
- Weltbank (2025). The World Bank in Viet Nam. Vietnams BIP-Prognosen, Wirtschaftsdaten und demografische Daten
Bibliographie
- Bevölkerungsfonds der Vereinigten Nationen – UNFPA (2025). Ageing Viet Nam.
- Do Khuong Manh, L. (2025). Kann Vietnams «Zeitalter des Aufstiegs» die Falle der mittleren Einkommen überwinden? East Asia Forum, März.
- Staatssekretariat für Wirtschaft (2025). Vietnam Cooperation Programme 2025–2028.
- Weltbank (2021).Vietnam: Adapting to an Aging Society.
- Weltbank (2025). The World Bank in Viet Nam. Vietnams BIP-Prognosen, Wirtschaftsdaten und demografische Daten
Zitiervorschlag: Gass, Thomas (2025). Vietnam: Reich werden, bevor man alt wird. Die Volkswirtschaft, 18. Juni.
Neugierig, was dieses oder jenes Land auszeichnet und mit der Schweiz verbindet? Schweizer Botschafterinnen und Botschafter im Ausland stellen ihr Gastland vor.
Staffel 2 widmet sich dem Thema «Demografie». Monat für Monat nehmen wir Sie mit in Länder mit junger, alternder oder gealterter Bevölkerung. Startpunkt ist Vietnam. Es folgen Nigeria, Italien und Guatemala.
| Einwohner (Wachstum, 2023)a | 100,5 Mio. (+0,7%) |
| Währung | Dong (VND) |
| BIP pro Kopfb (kaufkraftbereinigt)
BIP pro Kopfb (nominal) |
16’335 $ (CH: 94’937 $)
4535 $ (CH: 104’523 $) |
| BIP-Wachstumb | 7,1% (CH: 1,3%) |
| Arbeitslosenrate gemäss ILO-Modella | 1,4% (CH: 4,1%) |
| Schweizer Direktinvestitionen in Vietnamc (2023) | 1,2 Mrd. Franken |
| Vietnamesische Direktinvestitionen in der Schweiz (2023) | keine Angaben |
| Schweizer Exporte als Anteil aller Importe Vietnamsd (nur Waren, prov.) | 0,1% (Rang 36) |
| Vietnamesische Exporte als Anteil aller Importe der Schweizd (nur Waren, prov.) | 0,6% (Rang 32) |
| Schweizer Warenimporte aus Vietname | Textilien, Bekleidung (45,8%); Maschinen (31,1%); Land- und Forstwirtschaftliche Produkte (8,3%) |
| Schweizer Warenexporte nach Vietname | Chemie und Pharma (37,7%); Maschinen (36,8%), Uhren und Bijouterie (11,8%) |
| Bevölkerungsanteilea (2023)
0–14 Jahre |
23,6% (CH: 15,0) |
a Weltbank b IWF (2025). World Economic Outlook, April. c SNB d IWF e Bundesamt für Zoll und Grenzsicherheit / (Stand: 27.05.2025)