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Das digitale Spital: Grosse Chancen, viele Hürden

Künstliche Intelligenz, Big Data und Co.: Digitale Technologien gelten als zentral, damit Schweizer Spitäler Kosten senken und patientenfreundlicher werden. Doch nicht alles, was glänzt, funktioniert in der Praxis. Wie sollten Kliniken das Thema angehen?
Ärzte beatmen einen Patienten. Die intelligente Steuerung von Beatmungsgeräten wäre eine Möglichkeit für den Einsatz von digitalen Lösungen in Spitälern. (Bild: Keystone)

Die Kosten im Schweizer Gesundheitswesen steigen seit Jahren. Insbesondere Spitäler stehen daher zunehmend unter Kostendruck und suchen nach Möglichkeiten, effizienter zu werden bei gleichzeitig unverändertem Patientenwohl. Digitale Technologien bieten hierfür grosse Chancen, doch die Implementierung muss wohlüberlegt angegangen werden.

Im Rahmen eines Forschungsprojektes haben wir Gespräche[1] mit Entscheidungsträgern in der Schweizer Spitallandschaft geführt, um umfassend die Chancen und Herausforderungen digitaler Lösungen zu diskutieren. Diese offenbaren die vielfältigen Gründe für den nur langsamen Fortschritt bei der Implementierung digitaler Lösungen.

Innovationsdruck ist weiterhin hoch

Neue Medikamente, Behandlungstechniken und medizintechnische Gerätschaften erlauben immer bessere Diagnosen und Therapien. Doch was ein Segen für Patienten und behandelnde Ärzte ist, hat auch seinen Preis: Die Ausgaben der Krankenkassen steigen seit Jahren stark an. Diese fordern ihrerseits die Spitäler dazu auf, Kosten einzusparen. Ebenso hat der Gesetzgeber mit Eingriffen in die Tarifsysteme in den vergangenen Jahren den Kostendruck auf die Spitäler stark erhöht.[2]

Doch die Spitäler sind nicht inaktiv. Seit Jahren werden Organisationen und Prozesse optimiert, und Jahr für Jahr wird mit einem niedrigeren Betreuungsschlüssel an Pflege- und ärztlichem Personal gearbeitet. Immer mehr Spitäler professionalisieren ihren Einkauf und das Controlling, digitalisieren Vorgänge und versuchen über Kooperationen Kosten einzusparen. Auf der Erlösseite versuchen die Spitäler mit Zusatzangeboten neue Quellen zu erschliessen und zahlungskräftige Patienten aus dem Ausland in die Schweiz zur Behandlung zu locken.

Der Blick auf die Kosten ist allerdings nur ein, wenn auch der dominierende Aspekt. Ein anderer Grund ist der Fachkräftemangel, der die Spitaldirektionen zwingt, noch effizienter zu werden und bessere Arbeitsbedingungen zu schaffen. Mittlerweile sehen sich zudem viele Spitäler mit immer anspruchsvolleren Patienten konfrontiert: Online-Terminvergaben, E-Rezepte, umfangreiche Informationsportale und telemedizinische Angebote sind nur einige Versuche der Spitäler, die Interaktion für den Patienten angenehmer zu gestalten.

Digitale Technologien bieten Chancen

Seit Jahren gelten die vielfältigen Möglichkeiten der Digitalisierung im Schweizer Gesundheitswesen als Schlüsselkomponente zur Bewältigung dieser Herausforderungen. Bisher versuchten die Spitäler papierbasierte Strukturen abzulösen und Prozesse innerhalb des Spitals und in der Zusammenarbeit mit Praxisärzten zu vereinfachen und zu beschleunigen. Der Fokus lag auf Themen rund um das Krankenhausinformationssystem (KIS) und dem Elektronischen Patientendossier (EPD).[3]

Die konkreten Ergebnisse sind deutlich besser als ihr Ruf: Im europäischen Umfeld gilt die Schweiz zwar nicht als Musterland der Digitalisierung im Gesundheitswesen, ist aber im Durchschnitt doch fortschrittlicher als die meisten Nachbarländer.[4] Vergleiche mit anderen Branchen werden häufig herangezogen, sie sind aber wenig sinnvoll. Denn die Anforderungen und Rahmenbedingungen im Gesundheitssystem sind komplizierter als anderswo. Ausserdem ist die Ausgangslage speziell: Im Gesundheitswesen geht es um das «höchste Gut» des Menschen und nicht um Investitionsgüter.

Richtig ist allerdings: Der Einsatz von digitalen Technologien wie dem Internet der Dinge, maschinellem Lernen und künstlicher Intelligenz steckt abgesehen von Pilotprojekten noch in den Kinderschuhen. Immer mehr Medizintechnik- und Pharmaunternehmen sehen in der Digitalisierung neue attraktive Geschäftsfelder ausserhalb des Kerngeschäfts und preschen mit immer neuen Lösungen und Dienstleistungsangeboten vor. Die Bandbreite ist immens: Datenbasierte Algorithmen in der radiologischen Diagnostik oder Lösungen zur Überwachung und intelligenten Steuerung von Beatmungsgeräten in der intensivmedizinischen Betreuung spiegeln nur einen kleinen Teil der möglichen Anwendungsfälle.

Mannigfaltige Herausforderungen bremsen den Fortschritt

Doch viele Gründe verhindern den Fortschritt. Eine häufige Ursache sind die nach wie vor unausgereiften, in der Praxis nicht einsatzfähigen Technologien. Die verschiedenen digitalen Lösungen bringen heute oft noch nicht den erhofften Mehrwert im Klinikalltag. Zwar erleichtern sie die Verwaltung oder die Diagnosestellung gerade in Spezialfällen, völlig ersetzen lassen sich qualifizierte Mitarbeiter aber dadurch nicht. Viele Spitäler fragen daher zu Recht nach der Sinnhaftigkeit einer (oft teuren) Anschaffung, wenn klar messbare Ergebnisse nicht erkennbar sind.

Zudem müssen digitale Lösungen oft in die geschützte IT-Infrastruktur implementiert, Mitarbeiter geschult und Schnittstellen geschaffen werden. Weil die technischen Ressourcen knapp sind und die dezentrale IT-Infrastruktur es Externen kaum erlaubt, sinnvoll mitzuarbeiten, werden selbst kleine Projekte schnell zur Mammutaufgabe für Spitäler. Nicht selten stellt sich erst nach Projektbeginn heraus, dass die digitale Lösung nicht in die bestehende Prozesslandschaft integrierbar ist und die Kosten höher als erwartet sind. Müssen ohnehin ausgelastete Mitarbeiter dann zusätzliche Zeit investieren, ohne den Mehrwert zu sehen, können derartige Projekte schnell scheitern.

Spitäler sind zudem anders organisiert als Wirtschaftsunternehmen. Der Beschaffungsprozess für die digitale Lösung unterliegt vielen Restriktionen: Wie gelingt die Gegenfinanzierung, beziehungsweise können Kosten hierfür über die Krankenkassen abgerechnet werden? Werden nutzungs- und ergebnisbasierte Bezahlmodelle oder Einmalanschaffungen präferiert? Hinzu kommen oft lähmende interne Diskussionen über die Sinnhaftigkeit der Anschaffung und die Zuständigkeiten: Wird eine Lösung für das Spital angeschafft oder nur für einzelne Departemente? Wie arbeiten Einkauf, IT, Technik und die medizinischen Abteilungen des Spitals mit externen Anbietern bei Anschaffung, Implementierung und Betrieb digitaler Lösung zusammen? Schliesslich stellen sich auch juristische und haftungsrelevante Fragen: Ist der Einsatz gewisser Lösungen rechtlich zulässig, oder verbergen sich hier Haftungsrisiken für Mitarbeiter und Spital? Wie dürfen Patientendaten erhoben, technisch verarbeitet und gespeichert werden? Ist der Einsatz einer neuen Lösung sicher?

Vier Tipps für Spitäler

Trotzdem sollten Spitäler sich nicht abschrecken lassen. Denn die Digitalisierung ist ein vielversprechender und alternativloser Weg, der angegangen werden muss. Vier Empfehlungen sollten Spitäler dabei berücksichtigen:

Erstens: Definieren Sie eine Digitalstrategie! Hierbei gilt es, alle Mitarbeiter, insbesondere aber Ärzte und Pflegende einzubinden und klare Prioritäten festzulegen. Ein Fokus auf realistische Projekte mit guter Umsetzbarkeit ist wichtig: Digitalisierung soll nicht bedeuten, dass alles Digitale spitalweit und zentral gesteuert werden muss. Im Gegenteil, die einzelnen Klinikbereiche sind zu unterschiedlich in ihren Bedürfnissen. Zentrale Bereiche können jedoch unterstützen, um langfristig Synergien zu schaffen und die Interoperabilität der Lösungen sicherzustellen.

Zweitens: Die digitale Transformation kann nicht ohne zusätzliche Ressourcen und dezidierte Budgets gelingen. Denn oft müssen zunächst Vorleistungen erbracht werden, um eine gewisse Basis zu schaffen. Ein nachhaltiger Aufbau interner Ressourcen in Technik, Verwaltung und IT ist deshalb angeraten. Die Erfahrung zeigt zudem, dass externe Parteien die erforderliche Flexibilität, Agilität und Qualität oft nicht zu angemessenen Kosten leisten können.

Drittens: Finden Sie die geeignete Balance zwischen Kooperationen und eigener Umsetzung! Sicher: Enge Partnerschaften mit führenden Unternehmen, Universitäten und der öffentlichen Hand können mehrwertstiftend sein. Wahr ist aber auch, dass in solchen Kooperationen nicht immer greifbare Ergebnisse erzielt werden. Einerseits sollten Spitäler daher professionelle Strukturen im Management von Digitalisierungsprojekten und Partnerschaften aufbauen – auch um medizinische Fachpersonen zu entlasten. Anderseits können gerade grössere Spitäler durchaus einmal eigene, interne Projekte forcieren. Nicht immer muss es die grosse und teuer eingekaufte externe Lösung sein.

Viertens: Vernachlässigen Sie nicht die interne Ausbildung des bestehenden Personals! Bauen Sie digitale Kompetenzen mit auf. Denn viele Vorteile der implementierten Lösungen werden selbst nach Einführung nicht genutzt, da dem Personal schlicht die Kenntnis fehlt oder Widerstand gegenüber Neuem besteht. Gerade in der Ärzteschaft bestehen zum Teil Vorbehalte und Ängste, auf die man eingehen muss. Die Ernennung von sogenannten Lead-Usern kann die Adaptionshürden senken, Unsicherheiten seitens der Mitarbeiter abbauen und offene Fragen klären. Seitens der Kader sollten und müssen Freiräume geschaffen werden, um sich mit neuen Lösungen vertraut zu machen.

  1. Grundlage für diesen Artikel sind Gespräche mit Direktoren und Chefärzten von 12 Schweizer Spitälern. Ergänzend wurden Interviews mit 16 Medizintechnik- und Pharmaunternehmen als Anbieter digitaler Lösungen durchgeführt. []
  2. Siehe Christen (2020). []
  3. Siehe Swiss e-health Barometer (2021). []
  4. Siehe Angerer, Hollenstein, Russ (2020). []

Literaturverzeichnis

Bibliographie

Zitiervorschlag: Jonathan Rösler, Reto Sutter, Lukas Budde, Thomas Friedli (2022). Das digitale Spital: Grosse Chancen, viele Hürden. Die Volkswirtschaft, 02. August.