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«Verantwortlich für die Rentenlücke ist die Mutterschaft»

Frauen erhalten im Alter deutlich weniger Rente als Männer. Besonders ausgeprägt ist dies bei den Geschiedenen, vor allem bei den Alleinerziehenden, wie Monika Bütler im Interview sagt. Zudem erklärt die Ökonomin, wie die Altersvorsorge nachhaltig gesichert wird.

«Verantwortlich für die Rentenlücke ist die Mutterschaft»

Monika Bütler im Raiffeisen-Forum in Bern: «Sinnvoll wäre ein obligatorischer Vorsorgeausgleich in der zweiten Säule zwischen Eltern.» (Bild: Keystone / Peter Schneider)
Frau Bütler, Sie sind selbstständige Ökonomin. Wann schicken Sie sich in Rente?

Das ist eine schwierige Frage. Ich werde in den nächsten zehn Jahren bestimmt etwas weniger arbeiten als in den vierzig davor. Aber solange ich etwas machen kann, das mir wichtig erscheint und Spass macht, werde ich wohl nie ganz aufhören.

Die AHV ist letztes Jahr 75 Jahre alt geworden, das Dreisäulenkonzept 50. Was schätzen Sie am Vorsorgesystem der Schweiz am meisten?

Die Abfolge der Verantwortlichkeiten und die unterschiedlichen Arten der Finanzierung gefallen mir: Je nach Säule liegt die Verantwortung mehr beim Staat oder beim Individuum.

Im Wesentlichen gibt es zwei Finanzierungsverfahren: die Umlage in der ersten Säule und die Kapitaldeckung in der zweiten. Welche Vorteile haben die beiden Verfahren?

Der grosse Vorteil bei zwei etwa gleich starken Säulen ist die Diversifikation, sowohl der Risiken als auch der Kontrolle und der Organisation. Die erste Säule – die AHV – ist stärker von der Demografie und von der Wirtschaftsentwicklung abhängig, die zweite Säule – die Pensionskassen – mehr vom Kapitalmarkt. Die erste Säule ist vom Staat organisiert, die zweite Säule von Privaten, vor allem den Betrieben.

Gibt es ein Land, von dessen Altersvorsorgesystem die Schweiz lernen kann?

Es gibt keine Mustervorlage, die auf alle Länder angewandt werden kann. Wie die Altersvorsorge organisiert ist, hängt sehr stark davon ab, wie viel Risiko die Individuen übernehmen sollen und wie viel Wahlfreiheit es gibt. In den angelsächsischen Ländern beispielsweise sind das Risiko und die Wahlfreiheit stärker ausgeprägt. Bei der Vorsorge können wir von vielen Ländern ein bisschen lernen.

Was heisst das konkret?

Die nordischen Länder setzen viel stärker auf Automatismen, damit die Altersvorsorge finanziell gar nicht in Schieflage gerät. Schweden zum Beispiel passt das Rentenalter periodisch an die Lebenserwartung an. Die Niederlande gehen noch einen Schritt weiter, da können auch laufende Renten gekürzt werden, wenn es die Situation erfordert. Im Gegenzug profitieren Rentnerinnen unmittelbar von positiven Kapitalmarktentwicklungen. Das wären Ideen, welche die Schweiz übernehmen könnte.

Darauf kommen wir später noch zu sprechen. Der Unterschied der Rentenhöhe zwischen Mann und Frau ist auch in der Schweiz hoch. Allerdings nicht überall: Bei Verheirateten ist er sehr gross, bei Ledigen praktisch inexistent. Was heisst das?

Verantwortlich für die Rentenlücke ist die Mutterschaft. Gross ist der Unterschied zwischen den Geschlechtern bei den Geschiedenen, vor allem bei den Alleinerziehenden. Die Unterschiede bei den Ledigen sind gering, da es wenige Ledige mit Kindern gab. Das dürfte sich in Zukunft noch ändern. Ebenfalls klein ist – im Gegensatz zu vielen anderen Ländern – der Rentenunterschied bei den Verwitweten.

Und bei den Verheirateten?

Da gibt es auch Rentenunterschiede, aber für die finanzielle Situation als verheiratetes Paar sind diese sekundär. Problematisch wird es erst bei einer Scheidung.

Welche Massnahmen erscheinen Ihnen sinnvoll, um bei geschiedenen Müttern die Vorsorgeunterschiede auszugleichen?

Sinnvoll wäre ein obligatorischer Vorsorgeausgleich in der zweiten Säule zwischen Eltern, so lange, bis die Kinder 16 Jahre alt sind, und zwar unabhängig davon, ob die Eltern geschieden sind oder überhaupt verheiratet waren. Der Staat kann allerdings nicht jede Vorsorgelücke schliessen. Wer sich ohne Betreuungspflichten freiwillig entscheidet, nur Teilzeit zu arbeiten, muss mit einer kleineren Rente im Alter leben.

Wie sähe ein solcher Vorsorgeausgleich konkret aus?

Das in der zweiten Säule angesparte Kapital würde zwischen den Elternteilen aufgeteilt, genauso wie es heute bereits bei einer Scheidung passiert. Bürokratisch am einfachsten ist es, wenn die Ausgleichszahlungen erst am 16. Geburtstag des jüngsten Kindes ausgelöst werden. Die Herausforderungen liegen anderswo: beispielsweise wie der Vorsorgeausgleich in Patchwork-Situationen berechnet werden soll. Doch das wäre auch lösbar.

 

Ein etwas provokativer Vorschlag wäre, dass Studierende während des Studiums keine Beitragsjahre erhalten.

 

Was halten Sie von staatlich finanzierter Kinderbetreuung, damit Mütter ihr Arbeitspensum erhöhen und damit ihre Altersvorsorge verbessern?

Kinderbetreuung ist aus verschiedenen Gründen wichtig: um die Berufstätigkeit der Eltern zu ermöglichen und Kinder aus benachteiligtem Umfeld früh zu integrieren. Aber der Alterssicherung direkt bringt sie wenig, solange die negativen Arbeitsanreize über das Steuersystem und die kulturellen Vorurteile gegenüber berufstätigen Müttern so gross bleiben.

Kommen wir noch einmal zurück auf die erste Säule. Die Zahl der Pensionierungen wächst bis 2029 deutlich, weil die Babyboomer-Generation in Rente geht. Wie lässt sich eine nachhaltig finanzierte AHV sicherstellen?

Im Vordergrund steht für mich die Anpassung des Rentenalters an die Lebenserwartung, wie ich das zu Beginn für Schweden beschrieben hatte. Die Kopplung muss nicht eins zu eins sein. Wenn die Lebenserwartung ein Jahr steigt, könnte das Rentenalter beispielsweise um ein halbes Jahr steigen. Zentral wären allerdings Abfederungsmöglichkeiten beispielsweise für Berufe im Bau- und Pflegebereich, die körperlich anspruchsvoller sind. Ein etwas provokativer Vorschlag wäre, dass Studierende während des Studiums keine Beitragsjahre erhalten.

Die Studierenden müssten dann länger arbeiten?

Ja, das wäre gerechtfertigt. Erstens zahlt der Staat bereits die Ausbildung; warum sollte er auch noch die Beitragsjahre querfinanzieren? Zweitens haben besser ausgebildete auch eine deutlich längere Lebenserwartung. Die Subventionierung der Beitragsjahre geht zugunsten der Reicheren.

Wären Steuerungsmechanismen, analog der Schuldenbremse, bei der AHV eine Lösung?

Es gibt einen fundamentalen Unterschied zwischen Staatsausgaben und der AHV: Erstere sind zu einem viel höheren Anteil, eigentlich fast zu 100 Prozent, vorbestimmt. Eine Schuldenbremse verschiebt das Problem einfach in die Zukunft und greift möglicherweise in einem sehr ungünstigen Moment, nämlich in einer wirtschaftlich schwierigen Situation. Wenn der AHV-Ausgleichsfonds unter den Wert fällt, den die Schuldenbremse definiert, dann hilft kurzfristig, falls laufende Renten nicht gekürzt werden können, nur eine sofortige Erhöhung der Beiträge. Bis ein höheres Rentenalter zu Einsparungen führt, dauert es viel zu lange.

Dann sollten nur die AHV-Beiträge automatisch steigen?

Nein, aber wir sollten jetzt über eine automatische Anpassung des Rentenalters an die Lebenserwartung diskutieren, nicht erst, wenn die AHV pleite ist. Wer auf eine Schuldenbremse setzt, müsste sich einfach darüber im Klaren sein, dass dies in erster Linie eine automatische Beitragserhöhung bedeutet.

Wie sieht es bei den Pensionskassen mit der Umverteilung zwischen Jung und Alt aus?

Sie ist noch immer zu hoch, obwohl viele Pensionskassen den Umwandlungssatz bereits gesenkt haben. Die Umverteilung geschieht in erster Linie über eine zu tiefe Verzinsung des Kapitals. Die Umverteilung ist bei jenen Kassen gross, bei denen die Ausgaben für die Renten höher sind als das, was der Kapitalmarkt hergibt.

 

Wenn die Inflation auf 5 Prozent steigt, müsste man den Umwandlungssatz sogar erhöhen.

 

Sollte der Umwandlungssatz weiter gesenkt werden?

Er sollte flexibilisiert werden. Wenn die Inflation auf 5 Prozent steigt, müsste man den Umwandlungssatz sogar erhöhen. Wichtig ist es allerdings, eine gewisse Konstanz bei den Renten zu garantieren. Wir müssen schauen, dass nach einer Finanzkrise beispielsweise die nächste Generation, die in Rente geht, nicht auf einen Schlag 20 Prozent tiefere Leistungen erhält.

Welche Rolle spielt die private Vorsorge in Zukunft?

Eine grosse für Leute, die für sich selbst vorsorgen können. Das ist nicht bei allen der Fall. Darum finde ich es so wichtig, dass die erste Säule stabil bleibt. Im internationalen Vergleich haben wir mit der AHV, der beruflichen Vorsorge und den Ergänzungsleistungen bereits eine hohe Absicherung. In der Schweiz sparen wir sehr viel in der zweiten Säule, selbst für viele gut verdienende Menschen ist die Pensionskasse mit Abstand das wichtigste Vermögen.

Gut ein Drittel der Rentner bezieht mit dem Eintreten des Rentenalters in der zweiten Säule das volle Kapital. Ist dies nicht etwas gewagt, wo wir immer länger leben?

Doch, das ist heikel. Es wäre allerdings möglich, die Langlebigkeit zu versichern, ohne den Versicherten die Wahlmöglichkeit zu nehmen. Zum Beispiel könnte man verlangen, dass diejenigen, die bei der Pensionierung das Kapital beziehen, ein Fünftel des Vermögens in eine aufgeschobene Rente investieren, die erst ab Alter 85 läuft. Eine solche ist viel billiger als eine Rente ab 65.

Gibt es ein Land, das dieses System bereits umsetzt?

Nein, aber in den USA wird die aufgeschobene Rente stark beworben. In der Forschung werden die Vorzüge einer aufgeschobenen Rente ausführlich diskutiert. Gerade in Ländern wie den Niederlanden, in denen es noch keine Möglichkeit zum Kapitalbezug gibt. Eines ist klar: Die Bevölkerung will diesbezüglich mehr Wahlfreiheit.

Wir leben immer länger – aber bleiben wir auch länger arbeitsfähig?

Die heute 70-Jährigen sind deutlich fitter als die 65-Jährigen vor 30 Jahren, in jeder Hinsicht. Für Menschen, die in diesem Alter nicht mehr arbeitsfähig sind, braucht es separate Lösungen.

Die Anreize, länger zu arbeiten, sind nicht sehr gross.

Das stimmt, allerdings sind finanzielle Anreize allein nicht genug. Denn das gesetzliche Rentenalter hat eine wichtige psychologische Ankerfunktion für unsere Entscheidungen. Ein Beispiel: Erhält eine Rentnerin mit 65 eine Rente von 1000 Franken und einen Zuschlag von 20 Prozent, wenn sie bis 68 arbeitet, wird dies anders wahrgenommen als eine volle Pension von 1200 Franken im Alter von 68 und ein Abschlag von 16,7 Prozent bei einer vorzeitigen Pensionierung mit 65. Dies, obwohl es dieselben Zahlen sind.

Gibt es nichts anderes, was man tun könnte, damit die Menschen länger arbeiten?

Teilzeitlösungen nach dem Pensionsalter bewähren sich bereits in technischen Unternehmen mit Fachkräftemangel. Sie helfen, flexibel und gleitend in den Ruhestand zu gehen. Das Rentensystem allein kann das Problem nicht lösen. Genauso wichtig sind der Arbeitsmarkt und die Weiterbildung der Mitarbeitenden.

Sie haben Physik und Mathematik studiert und dann noch ein Ökonomiestudium angehängt, damit Sie mehr bewirken können in der Gesellschaft, wie Sie einst sagten. Ist das aus Ihrer Sicht gelungen?

Das müssten Sie andere fragen. (lacht) Manchmal denke ich, dass ich nur rede und schreibe, aber kaum etwas bewegen kann. Doch eine Debatte bringt uns immer weiter, auch wenn nicht das herauskommt, was ich mir aus ökonomischer Sicht wünschte. Interessanterweise ist der wichtigste Beitrag, den ich leisten kann, den Menschen ökonomische Zusammenhänge einfach aufzuzeigen. In diesem Sinne würde ich es wieder genauso machen.

Zitiervorschlag: Nicole Tesar, Monika Lüthi (2023). «Verantwortlich für die Rentenlücke ist die Mutterschaft». Die Volkswirtschaft, 20. Februar.

Monika Bütler

Die 61-jährige Wirtschaftswissenschaftlerin lehrte bis 2021 als ordentliche Professorin Wirtschaftspolitik an der Universität St. Gallen. Die Sozialversicherungen galten als ihr Schwerpunkt. Heute ist Bütler selbstständige Ökonomin und Honorarprofessorin an der Universität St. Gallen. Sie ist unter anderem Verwaltungsrätin beim Versicherer Swiss Life und beim Lifthersteller Schindler.