Staatssekretärin Helene Budliger Artieda in ihrem Büro in Bern: «Man überfordert ein Handelsabkommen, wenn man zusätzlich gesellschaftspolitische, kulturelle oder religiöse Aspekte aufnimmt.» (Bild: Keystone / Susanne Goldschmid)
Das ist 20 Jahre her. Ich habe mich in diesem organisierten Chaos sofort wohlgefühlt. Jeder hupt, alles ist bunt. Das gefällt mir. Ich besuchte damals unsere Aussenstellen als Ressourcenchefin des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten (EDA).
Kurz bevor ich im Seco anfing, kontaktierte mich der Schweizer Botschafter in Indien. Ich war damals noch Botschafterin in Thailand. Er sagte: Helene, das Seco muss jetzt etwas machen. Ein «Window of Opportunity» tut sich auf. Indien hat soeben mit den Vereinigten Arabischen Emiraten ein Freihandelsabkommen abgeschlossen. Die Regierung von Premierminister Modi bewegt sich.
Ich kenne Botschafter Ralf Heckner in Delhi gut. Sonst hätte er mich vielleicht nicht schon vor meinem Amtsantritt kontaktiert. So brachte ich an meinem ersten Seco-Arbeitstag diese Opportunität für die Schweiz mit. Allerdings: Ich bin vorerst nicht auf wahnsinnig viel Begeisterung gestossen. Man hatte es einfach schon zu lange versucht.
Mein zweites Schlüsselerlebnis hatte ich im September 2022. Ich reiste anstelle von Bundesrat Guy Parmelin ans Handelsministertreffen der G-20-Länder in Indonesien. Dort traf ich den indischen Handelsminister Piyush Goyal zum ersten Mal.
Natürlich nicht. Erstens bin ich keine Ministerin, und zweitens war ich «The New Kid on the Block». Aber: Auf einer vom Gastgeberland Indonesien organisierten Bootstour in den Sonnenuntergang bin ich auf ihn zugegangen, habe mich höflich vorgestellt und signalisiert, dass ich mir ein Freihandelsabkommen erhoffe. Das stiess nicht auf viel Gegenliebe. Aber ich spürte, dass Minister Goyal sehr engagiert ist und sehr direkt kommuniziert – wie ich. Auf einer persönlichen, chemischen Ebene könnte das vielleicht klappen – dachte ich mir.
Ein paar Monate nach dem G-20-Gipfel sprach ich zwei Stunden informell mit Minister Goyal in Delhi. Zwischendurch haben wir auch ein bisschen gestritten. Am Schluss wünschte er, die Schweizer Pharmaindustrie zu treffen. Drei Wochen später stand ich wieder vor seinem Büro – mit der Schweizer Pharmaindustrie. Das hat ihn überrascht und überzeugt: Die wollen wirklich.
Wir haben sehr gut über die Banden gespielt: Benötigte es ein Wort von oben, dann war Bundesrat Guy Parmelin da.
Das ist das Gute an der Schweiz. Wir kennen unsere offensiven Interessen genau. Die Pharma gehört zu unseren grössten Steuerzahlern und ist unser Exportchampion. Also ist es klar: Wir können nichts unternehmen, was diesen Sektor schwächt. Mir war es wichtig, Vertrauen aufzubauen. Der Privatsektor sollte nicht das Gefühl haben, wir sprächen mit ihm eine andere Sprache als in Delhi. Daher waren wir häufig mit Branchenvertretern in Indien. Sie hörten Indiens Erwartungen im Originalton, konnten sich einbringen und sehen, wie schwierig die Verhandlungen waren.
Es gibt kein Rezept. Ich versuche, mit gutem Vorbild voranzugehen, und engagiere mich. Niemand hat von mir erwartet, dass ich abschliesse. Alle dachten, das Freihandelsabkommen mit Indien sei nicht abzuschliessen. Aber die Verhandlungen waren vor allem eine Teamleistung.
Wir haben sehr gut über die Banden gespielt: Benötigte es ein Wort von oben, dann war Bundesrat Guy Parmelin da. Der Chefunterhändler Markus Schlagenhof, sein Team und fast die gesamte Bundesverwaltung haben engagiert mitgemacht. Der norwegische Wirtschaftsminister reiste dreimal nach Indien. Und schliesslich für uns ganz entscheidend: Die Wirtschaftsverbände und einzelne Schweizer Firmen zogen mit. Diese Mobilisierung ist mir relativ gut gelungen.
Drei Monate vor Verhandlungsabschluss: Staatssekretärin Helene Budliger Artieda und der indische Handelsminister Piyush Goyal treffen sich in Delhi. (Bild: zvg)
Jedes Mal. Und je mehr Leute im Saal waren, desto länger erklärte mir Minister Goyal, wie wichtig der indische Markt sei und künftig sein werde. Die Wachstumsrate Indiens liege bei 7 Prozent.
Es hat lange gedauert, bis wir dieses «What’s in it for India?» austariert hatten. Zuerst haben wir klassisch Warenverkehr gegen Warenverkehr und Dienstleistungen gegen Dienstleistungen abgewogen. Hier trafen wir aber nie die indischen Erwartungen – einfach aufgrund der Marktgrössen: 1,4 Milliarden Einwohner versus 15 Millionen in der Efta. Unser dritter Angebotsversuch war eine vertiefte Zusammenarbeit im Bereich Forschung und Innovation. Indien stieg nicht darauf ein. Am Ende haben wir uns dann auf das Investitionskapitel geeinigt.
Die kam von mir. Ich habe mir die ganze Zeit überlegt, was ich anbieten könnte. Irgendwann schrieb ich diese Idee auf ein Zettelchen – ohne konkrete Zahlen. Jobs, das ist es natürlich, was Indien mit seiner jungen Bevölkerung braucht.
Das war immer klar. Es ist eine freiwillige Aktion. Daher habe ich zweimal Firmen und Wirtschaftsverbände konsultiert und gesagt: Schaut, meine Leute sagen, wir seien noch nie so nahe an einem Abschluss gewesen. Jetzt können wir mit dem Investitionskapitel einen neuen Weg gehen. Nach unseren Berechnungen erreichen wir die Ziele wahrscheinlich in 15 Jahren.
Unser einziges Risiko ist, dass wir in 20 Jahren eventuell wieder dort stehen, wo wir heute sind.
Wir haben 15 Jahre Zeit. Gelingt es uns nicht, beginnt ein fünfjähriger mehrstufiger Prozess. Indien könnte danach einseitig die Zollpräferenz teilweise und vorübergehend aufheben. Wichtig: Unser einziges Risiko ist, dass wir in 20 Jahren eventuell wieder dort stehen, wo wir heute sind. Dafür haben wir aber jetzt einen «First Mover»-Vorteil gegenüber anderen Ländern. Dieser ist attraktiv und schafft uns einen Vorsprung gegenüber anderen Ländern. Denn unsere Firmen kämpfen aktuell mit einem starken Schweizer Franken, unser Exportmarkt Deutschland schwächelt, und der Handel unterliegt generell geopolitischen Störungen.
Insgesamt beseitigt oder senkt das Abkommen Zölle für rund 95 Prozent unserer Exporte nach Indien. Damit können Schweizer Exporteure jährlich 167 Millionen Franken sparen. Mir lag neben anderen Branchen die Maschinen-, Elektro- und Metallindustrie am Herzen. Diese wird heute durch bis zu fast 30-prozentige Zölle belastet. Es ist uns aber nicht gelungen, für alle Schweizer Wirtschaftssektoren alles herauszuholen.
Der Landwirtschaftsbereich ist für Indien extrem sensibel, konkret Milchprodukte. Normalerweise punkte ich hier, wenn ich sage, dass ein Schweizer Bauernhof mit 50 Milchkühen bereits zu den Grossbetrieben zählt. Dieses Argument beeindruckte Minister Goyal nicht. Er verwies zu Recht auf Indiens Kleinstbauern: Häufig sind das alleinstehende Frauen mit drei Kühen in einer Kooperative.
Nein. Den Zugang zum Schweizer Arbeitsmarkt haben wir nicht verhandelt. Es gelten Drittstaatenkontingente, und diese werden nicht einfach so angepasst. Unsere Zugeständnisse an Indien liegen im Rahmen unserer gesetzlichen Möglichkeiten, beispielsweise erhalten gewisse Kategorien von Geschäftsreisenden leichter ein Einreisevisum.
Rechtssicherheit. Das war das Wichtigste. Ich musste Minister Goyal öfter sagen, dass ich hier keine Kompromisse eingehe. Denn das wäre so, als wenn ich von ihm verlangte, den Schutz der indischen Landwirtschaft aufzugeben. Der Schutz von geistigem Eigentum ist unser Brot-und-Butter-Geschäft. Wir leben von innovativen Ideen – nicht nur im Pharmabereich – und sind damit reich geworden.
Es ändert überhaupt nichts.
Man überfordert ein Handelsabkommen, wenn man zusätzlich gesellschaftspolitische, kulturelle oder religiöse Aspekte aufnimmt.
Man darf nicht glauben, dass die Schweiz Indien verändert. Indien regiert sich selbst und ist nur bedingt offen für Lektionen aus westlichen Ländern. Im Kapitel zu Handel und nachhaltiger Entwicklung nehmen wir Themen auf, die einen Bezug zu Handel haben: Klima, Biodiversität und Arbeitsmarkt. Man überfordert ein Handelsabkommen, wenn man zusätzlich gesellschaftspolitische, kulturelle oder religiöse Aspekte aufnimmt. Dinge zu fordern, welche mehrere Generationen innerhalb der indischen Gesellschaft nicht erreicht haben – da würden wir uns überschätzen.
Dieses Konzept hat nicht das gebracht, was wir uns im Westen davon erhofft hatten. Aber deswegen müssen wir keine Bankrotterklärung unterschreiben: Freihandel bleibt ein erfolgreiches Rezept zur Armutsbekämpfung.
Ganz im Gegenteil. Ich glaube, da gibt es einen gesunden Wettbewerb zwischen den Ländern: Das eine Abkommen ist eine Chance für das andere.
Es gibt verschiedene Kandidaten. Ich hoffe auf dasjenige mit den Mercosur-Staaten. Aber das ist schwierig vorherzusagen.
Der Schweiz-interne Ratifikationsprozess im Parlament läuft bereits. Wenn alles gut geht, ist das Abkommen im Herbst 2025 in Kraft.
Zitiervorschlag: Interview mit Staatssekretärin Helene Budliger Artieda, Seco (2024). «Alle dachten, das Freihandelsabkommen mit Indien sei nicht abzuschliessen». Die Volkswirtschaft, 05. September.
Die 59-jährige Helene Budliger Artieda leitet seit August 2022 das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco). Als 20-Jährige stieg sie als Assistentin beim Eidgenössischen Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) ein. 15 Jahre lang arbeitete sie in sechs verschiedenen Ländern. Im Jahr 2000 schloss sie in Kolumbien den MBA ab. Es folgte die Leitung der Direktion für Ressourcen im EDA sowie der Botschaften in Südafrika und in Thailand, bevor sie zur Staatssekretärin ernannt wurde. Das Seco ist mit seinen rund 800 Mitarbeitenden das Kompetenzzentrum des Bundes für die Kernfragen der Wirtschaftspolitik.