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Guatemala: Die Hoffnung ruht auf der Jugend

Im zentralamerikanischen Land beträgt das Durchschnittsalter 23 Jahre. Die Jugend könnte dem Land zu mehr Wirtschaftswachstum verhelfen.
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Junge Bevölkerung: Rund ein Drittel der Guatemaltekinnen und Guatemalteken ist unter 15 Jahre alt. (Bild: Keystone)

Auf dem Flughafen La Aurora in Guatemala-Stadt landen an diesem Vormittag im Juni 2025 vor der Kulisse majestätischer Vulkane zivile und militärische Flugzeuge. Den Flugzeugen entsteigen zahlreiche guatemaltekische Migrantinnen und Migranten, die aus den USA ausgewiesen wurden. Diese Rückführungen erfolgen schon seit Jahren.

Dabei kommt mir das kürzlich geführte Gespräch mit Ana aus dem nördlichen Teil der Hauptstadt in den Sinn. Ihre erwachsenen Söhne – nennen wir sie Diego und Andrés – leben seit Jahren irregulär in Kalifornien und Texas, einer von ihnen mit Frau und zwei schulpflichtigen Kindern. Beide sind in den USA informell beschäftigt und meiden den öffentlichen Raum, aus Angst aufgegriffen und rückgeschafft zu werden. Diego und Andrés überweisen ihrer Mutter seit Ende 2024, als Donald Trump zum US-Präsidenten gewählt wurde, mehr Geld als früher. Denn sie befürchten, bei einer Abschiebung alle ihre Ersparnisse zu verlieren. Eine freiwillige Rückkehr komme für ihre beiden Söhne aber nicht infrage, so die Mutter. Denn das Einkommen sei in den USA viel höher als in Guatemala. Zudem gebe es weniger Kriminalität.

Aktuelle Wirtschaftslage

Guatemala ist flächenmässig rund zweieinhalb Mal so gross wie die Schweiz. Seit 2022 gehört es zur Gruppe der Länder mit oberem mittlerem Einkommen. Das liberale Wirtschaftssystem ist von einem fest verankerten Unternehmertum geprägt, und makroökonomisch ist das Land seit Langem stabil. 2024 verzeichnete Guatemala ein reales Wirtschaftswachstum von 3,7 Prozent bei einer Inflation von 3,6 Prozent. Die Staatsquote, welche die Staatsausgaben mit dem Bruttoinlandprodukt vergleicht, beträgt ausserordentlich tiefe 13 Prozent (Schweiz: 32%). Auch die Investitionstätigkeit ist mit 17 Prozent des BIP sehr gering, wobei der Staat ein Zehntel davon realisiert. Im Gegensatz dazu weist die Gruppe der Länder mit oberem mittlerem Einkommen im Schnitt eine Investitionstätigkeit von 34 Prozent auf.

Das Handelsvolumen liegt mit 48 Prozent des BIP im mittleren Bereich, und das Land weist eine hohe negative Handelsbilanz auf. Dennoch ist die Ertragsbilanz unter dem Strich leicht positiv, vor allem wegen hoher Überweisungen von ausgewanderten Guatemaltekinnen und Guatemalteken, die 19 Prozent des BIP ausmachen. Exportiert werden hauptsächlich Landwirtschaftsprodukte und Bekleidung nach Zentralamerika, in die USA und nach Mexiko. Bei den Importen sind die USA und China die grössten Handelspartner.

Grosse demografische Herausforderungen

Rund 18 Millionen Menschen lebten 2024 in Guatemala. Das Bevölkerungswachstum ist mit 1,5 Prozent ähnlich hoch wie in der Schweiz. Allerdings ist die Bevölkerung Guatemalas deutlich jünger: Das Medianalter in Guatemala liegt bei 23 Jahren, in der Schweiz liegt es 20 Jahre höher. Und 32 Prozent der Guatemaltekinnen und Guatemalteken sind unter 15 Jahre alt (in der Schweiz sind es 15%). Rund die Hälfte der Bevölkerung sind indigene Maya, die hauptsächlich in den westlichen Hochlandregionen leben. Die grosse Mehrheit von ihnen ist arm und wird auf unterschiedlichen Ebenen stark diskriminiert.

Die junge Bevölkerung hat das Potenzial, sich zu einem wirtschaftlichen Vorteil zu wandeln, man spricht von einer «demografischen Dividende». Die Idee dahinter: Wenn die vielen Jungen in den Arbeitsmarkt eintreten, könnte der Anteil der erwerbstätigen Bevölkerung (15 bis 64 Jahre) zunehmen und so das Wirtschaftswachstum ankurbeln. Damit dies passiert, muss allerdings die Geburtenrate sinken und/oder der Anteil der wirtschaftlich abhängigen Rentner und Jungen abnehmen. Diese Veränderungen sind in Guatemala bereits seit vielen Jahren im Gang.

Hinzu kommen aber strukturelle Herausforderungen, welche die Ausschöpfung dieses Potenzials erschweren: Das Land weist eine sehr hohe Armutsrate auf, die nachfrageseitig den Zugang zu Bildung und Gesundheitsversorgung beschränkt. Zudem ist die Einkommens- und Vermögensungleichheit hoch (Einkommens-Gini-Index 45; in der Schweiz 34). Das hemmt den Konsum und entsprechend die Investitionen. Auch die Infrastruktur weist Defizite auf, und es wird angebotsseitig von Staat und Privaten zu wenig investiert, vor allem in den Bereichen Bildung und Gesundheit. Die offizielle Arbeitslosigkeit in Guatemala ist zwar niedrig, aber rund 75 Prozent aller Erwerbstätigen sind im informellen Sektor tätig, zum Beispiel als Kleinbauern und in Kleinstunternehmen. Diese Informalität hemmt die wirtschaftliche Produktivität, bietet keine soziale Sicherheit und behindert Einkommenssteigerungen.

Um die strukturellen Herausforderungen anzugehen, braucht es gezielte Investitionen, beispielsweise in Bildung, Gesundheitsversorgung, Arbeitsmarktintegration und Gleichstellung von Frauen und Ethnien. Die anhaltend tiefen Privat- und Staatsinvestitionen führten in der Vergangenheit nur zu einem moderaten Wirtschaftswachstum. Zusammen mit dem Bürgerkrieg von 1960 bis 1996 führten dies und die Aussicht auf ein höheres Einkommen im Ausland dazu, dass jährlich netto rund 35’000 Personen irregulär in die USA auswanderten. Das sind rund 0,2 Prozent der Bevölkerung pro Jahr – darunter überproportional viele Maya. Doch seit einigen Jahren schieben die USA irreguläre guatemaltekische Migrantinnen und Migranten vermehrt ab, sodass die Nettomigration seit 2022 auf unter 10’000 pro Jahr fiel. Dies trägt dazu bei, dass die Ausschöpfung des Potenzials der demografischen Dividende für das Land noch herausfordernder ist. Denn oft finden diese Rückkehrer keine Arbeit oder nur im informellen Sektor.

Bereits 2024, in ihrem ersten Jahr, konnte die neue Mitte-links-Regierung unter Präsident Bernardo Arévalo die Staatsausgaben etwas erhöhen und setzte insbesondere Massnahmen in den Bereichen Bildung, Gesundheit, Sicherheit und Verwaltung (unter anderem Korruptionsbekämpfung) um. Bei der Verkehrsinfrastruktur waren die Massnahmen weniger umfassend, was partiell auch an den geerbten Defiziten liegt.

Zahlreiche Verbindungen zur Schweiz

Im 19. und im frühen 20. Jahrhundert gelangten Schweizer Migrantinnen und Migranten nach Guatemala, angezogen vom Potenzial  der Landwirtschaft. Ende 2024 lebten über 1100 Schweizerinnen und Schweizer im Land. Seit 119 Jahren bestehen diplomatische Beziehungen. Später kamen Schweizer Unternehmen aus den Bereichen Rohstoffe, Maschinenbau, Infrastruktur, Chemie, Pharma und Lebensmittel hinzu, darunter grössere Firmen wie Nestlé, Novartis, Roche und Sika. Diese bedienen von Guatemala aus auch den zentralamerikanischen Markt. Für den Zuzug von grösseren Schweizer Unternehmen waren die politische Stabilität nach Beendigung des Bürgerkriegs 1996, eine liberale und stabile Wirtschaft sowie das Pro-Kopf-Einkommen ausschlaggebend.

Das Handelsvolumen zwischen den beiden Ländern liegt auf sehr tiefem Niveau, wobei vor allem landwirtschaftliche Güter wie Kaffee in die Schweiz exportiert werden. Vor knapp zehn Jahren wurde in Guatemala die erste bilaterale Handelskammer in Zentralamerika mit heute knapp 40 Mitgliedern gegründet. Wichtig wäre der seit Langem zu vollziehende Beitritt Guatemalas zum seit 2014 bestehenden Freihandelsabkommen der Europäischen Freihandelsassoziation (Efta) mit den zentralamerikanischen Ländern Panama und Costa Rica. Im Jahr 2015 haben alle Länder den Beitritt Guatemalas unterzeichnet. Von den anschliessenden Ratifizierungen stehen aber noch diejenigen von Panama und Costa Rica aus.

Was kann die Schweiz von Guatemala lernen?

Guatemala zeigt, dass es wichtig ist, wirkmächtige strukturelle Herausforderungen zum Beispiel beim Thema Demografie frühzeitig zu analysieren und anzugehen. Auch in der Schweiz gibt es solche Themen – zum Beispiel den Fachkräftemangel. Zudem zeigt Guatemala die Auswirkungen nicht optimaler Staatstätigkeit. Und nicht nur die Ausgestaltung des Wirtschaftssystems ist zentral, sondern auch die Wichtigkeit von Verteilungsfragen.

Die politischen Veränderungen seit der Amtsübernahme der neuen Regierung wecken Hoffnung, dass die strukturellen Herausforderungen in Guatemala verstärkt angegangen werden und das Land die demografische Dividende realisieren kann: ein Wirtschaftswachstum, von dem die ganze Bevölkerung profitiert.

Es brummt wieder am Himmel über La Aurora. Die US-Flugzeuge steigen am Ende des Vormittags zügig auf und fliegen Richtung Norden zurück.

Zitiervorschlag: Denzer, Roger (2025). Guatemala: Die Hoffnung ruht auf der Jugend. Die Volkswirtschaft, 14. August.

Serie: Blick in die Welt

Neugierig, was dieses oder jenes Land auszeichnet und mit der Schweiz verbindet? Schweizer Botschafterinnen und Botschafter im Ausland stellen ihr Gastland vor.

Staffel 2 widmet sich dem Thema «Demografie». Monat für Monat nehmen wir Sie mit in Länder mit junger, alternder oder gealterter Bevölkerung. Bereits erschienen: Vietnam, Nigeria und Guatemala. Es folgt Italien.

Guatemala Flag Guatemala in Zahlen (2024)
Einwohner (Wachstum)a 18,4 Mio. (+1,5%)
Währung Guatemaltekischer Quetzal (GTQ)
BIP pro Kopfb
kaufkraftbereinigt:
nominal:
14’827 $ (CH: 94’937 $)
6307 $ (CH: 104’523 $)
BIP-Wachstum 3,7% (CH: 1,3%)
Arbeitslosenrate gemäss ILO-Modell 2,2% (CH: 4,1%)
Schweizer Direktinvestitionen in Guatemalac (Bestand 2023) 1006 Mio. $
Guatemaltekische Direktinvestitionen in der Schweizc (2023) 0 Mio. $
Guatemaltekische Exporte als Anteil aller Importe der Schweizc
(nur Waren)
0,02% (Rang 95)
Schweizer Exporte als Anteil aller Importe Guatemalasc
(nur Waren)
0,14% (Rang 37)
Schweizer Warenimporte aus Guatemalad Landwirtschaftliche Produkte (87,6%)
Kunstgegenstände und Antiquitäten (8%)
Textilien, Bekleidung, Schuhe (3,4%)
Schweizer Warenexporte nach Guatemalad Chemie und Pharma (33,2%), Präzisionsinstrumente, Uhren und Bijouterie (24,4%), Maschinen, Apparate und Elektronik (21,8%)
Bevölkerungsanteilea (2023)
0–14 Jahre
15–64 Jahre
65+
 

31,6% (CH: 15,0%)
63,6% (CH: 65,4%)
4,8% (CH: 19,6%)

a Weltbank, b IWF (2025). World Economic Outlook, April., c IWF, d Bundesamt für Zoll und Grenzsicherheit / Stand: 10.07.2025